Entstehung, Rezeption und Adaption

Auch wenn erst 1928 veröffentlicht, begann Vicki Baum auf Vorschlag von Ullstein wahrscheinlich schon im Herbst 1925 am Roman über das „tüchtige[] Mädel“ (Baum 1962, 348) stud. chem. Helene Willfüer zu schreiben.

Seit dem Frühjahr 1924 aufgrund des Dirigentenengagements ihres Ehemanns Richard Lert im konservativen und ihr nicht sonderlich sympathischen Mannheim wohnhaft, recherchierte sie dort mehrere Wochen lang in einem chemischen Unternehmen, wahrscheinlich der Firma Dorr mit Sitz in Wiesbaden und Berlin. Dort lernte sie neben dem Direktor Bengt Wadsted – Vorbild für viele ihrer literarischen Figuren (u. a. in Panik. Die Geschichte einer Entgleisung [1926] als Arnold von Stetten, Chefingenieur einer Chemiefabrik, der eine Affäre mit der berühmten Primaballerina Grusinskaja [eine der Protagonist*innen des 1929 erschienenen Menschen im Hotel] hat; vgl. Nottelmann 2007, 99–104) – auch die Studentenstadt Heidelberg kennen und lieben, deren romantische Atmosphäre und wissenschaftliches Umfeld ihr maßgeblich als Inspiration für den Roman dienten (vgl. Baum 1962, 348). In ihrer Autobiografie berichtet sie zudem von ihrem Dienstmädchen, das eine Abtreibung durchführen ließ und deswegen im Krankenhaus behandelt wurde (Baum 1962, 257f.).

Der erste Vertrag zwischen Baum und Ullstein über den Roman (Vorabdruck in der BIZ und die spätere Buchausgabe), hier noch unter dem Titel „Ja und Nein“, datiert jedenfalls vom 4.10.1926 (Vertrag Vicki Baum/Ullstein, 4.10.1926, UBV), als Baum bereits ihre fixe Redaktionsstelle im Verlag innehatte und auch ihren Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegt hatte. Doch Ullstein war zu dem Zeitpunkt zum einen das Abtreibungsthema des Romans noch zu brisant – 1926 war in Deutschland gerade erst der umstrittene § 218 reformiert worden und das Thema öffentlich daher sehr präsent und heiß diskutiert –, und zum anderen wollte er Baums Image als Autorin mittels einer groß angelegten Marketingstrategie professionell aufbauen (vgl. King 1988, 81–107 und 1995; Ankum 1997, 22–25).

Vertrag zu "Ja und Nein" zwischen Vicki Baum und dem Ullstein Verlag vom 04.10.1926, UBV.

So erschien noch im August 1927 Baums Sommerromanze Hell in Frauensee in einer preiswerten Ausgabe und in Berlin kam mit Feme der erste abendfüllende (Stumm-)Film nach einem Baum-Roman heraus. Weiters sollte Baum mit Publikationen in den verlagseigenen Blättern, wie der populären BIZ, dem intellektuellen Uhu und der mondänen Dame verschiedene Zielgruppen ansprechen und potenzielle Leser*innen anwerben: Ihr Artikel Erfahrungen mit der Verjüngung, für den sie im Selbstversuch hormonelle Antiaging-Kuren getestet hatte, wurde inklusive Foto als Vorstudie für den neuen Roman, in dem die Chemiestudentin Helene ein Verjüngungsmittel erfindet, im Dezember 1927 im Uhu veröffentlicht (Baum 1927b; vgl. Bertschik 2006, 200) und prominent auf der Titelseite der Zeitschrift in Szene gesetzt. Daneben trat Baum auch als realistische Erzählerin in Erscheinung, die z. B. in ihrer Weihnachtsgeschichte „24. Dezember Geschlossen …“ (Baum 1928a) und ihrer Erzählung Das Filmgesicht (1928b) kritisch hinter die prächtigen Kulissen von Theater und Film blickt, präsentierte sich in der BIZ als moderne und engagierte Mutter (1927c) und beklagte in der Dame in einer Rezension der zeitgenössischen Ehe-Beststeller von Theodoor Hendrik van de Velde und Otto Flake die „langweilige Erotik“ (Baum 1928c; vgl. auch Baum 1927a).

Vertrag zu "Ja und Nein" zwischen Vicki Baum und dem Ullstein Verlag vom 31.01.1928, UBV.

Diese Strategie sollte sich für Baum als ausgesprochen lukrativ herausstellen, denn als im Oktober 1928 in der BIZ die erste Folge von stud. chem. Helene Willfüer erscheint, hatte Ullstein ihr die Rechte am Roman um 17.000 Mark erneut abgekauft (vgl. Vertrag Vicki Baum/Ullstein über stud. chem. Helene Willfüer, 31.1.1928, UBV). Die BIZ steigerte ihre Auflage von 200.000 auf fast zwei Millionen Stück und wurde zur meistgelesenen Wochenzeitung Berlins. Und auch die Buchausgabe setzte diesen Erfolgskurs fort, im März 1929 waren bereits in Deutschland 36.000 Exemplare verkauft (Werbung Vossische Zeitung, 2.6.1929), Mitte des Jahres 1930 dann 105.000 (vgl. Nottelmann 2007, 125; King 2004, 186) und auch in den Leihbüchereien war der Roman einer der am meisten entlehnten (vgl. Anonym 1933). Baum war zur öffentlichen Person und zum Werbemittel geworden: Sie wirbt für Armbanduhren der Marke Alpina, ihre Romanfigur Helene Willfüer preist als prominente Wissenschaftlerin die ‚Schlankheitszigarette‘ der Marke Greiling-Kolibri an.

Und auch im kollektiven Bewusstsein waren Baum und ihre Romanfiguren fix verankert: So erscheint die Autorin z. B. nach Abschluss des Fortsetzungsabdrucks in der BIZ als Gegenstand einer Karikatur auf dem Titelblatt der Literarischen Welt, vor einem Rechenschieber sitzend mit der Bildunterschrift „Vicky Baum beschäftigt sich für ihren neuen Ullsteinroman mit Relativitätstheorie“ (Frank/Scherer 2022, 71f.). Helene Willfüer wird in einem Gedicht, das 1931 im Uhu erscheint, namentlich als Vertreterin eines der zeitgenössischen Frauentypen genannt:

Wir passieren Stationen vom Sportgirl bis Gretchen,
Studentin Helene bis Lesbosmädchen.
Und – bei welchem Typ wir bleiben
Ist schwer zu entscheiden – wir lassen uns treiben. (Tillrot 1931)

Und noch zehn Jahre später publiziert Richard Krebs seinen Exilroman Out of the Night (1941, dt. Tagebuch der Hölle) unter dem Pseudonym Valtin und gibt der weiblichen Hauptfigur den Namen Firilei (vgl. Capovilla 2001, 107).

Veronika Hofeneder

Siglen

  •  UBV - Ullstein Buchverlage Vertragsarchiv, Berlin


Literatur

  • Ankum 1998 - Katharina von Ankum: Rückblick auf eine Realistin. In: apropos Vicki Baum. Hg. v. ders. Frankfurt/Main 1998, 8–45.
  • Anonym 1933 - Anonym: Meistentlehnte Schriftsteller und Werke der Gruppe Dichtungen in Wien 1932. In: Bildungsarbeit. Blätter für sozialistisches Bildungswesen 20, 7/8, 1933, 144.
  • Baum 1927a - Vicki Baum: Das Buch und die Ehe. In: Die Dame 54, 22, Drittes Juliheft 1927, Beilage: Die losen Blätter, 350f.
  • Baum 1927b - Vicki Baum: Erfahrungen mit der Verjüngung. Ein Rundgang durch die Laboratorien einer neuen Wissenschaft. In: Uhu 4, 3, Dezember 1927, 32–41.
  • Baum 1927c - Vicki Baum: O, diese Eltern. Die Kluft zwischen den Generationen. In: Berliner Illustrirte Zeitung 36, 35, 1927, 1389f.
  • Baum 1928a - Vicki Baum: „24. Dezember Geschlossen …“ Eine Weihnachtsgeschichte. In: Uhu 5, 3, Dezember 1928, 29–36, 41f.
  • Baum 1928b - Vicki Baum: Das Filmgesicht. In: Berliner Illustrirte Zeitung 37, 43, 1928, 1829, 1831.
  • Baum 1928c - Vicki Baum: Die langweilige Erotik. In: Die Dame 55, 24, Zweites Augustheft 1928, Beilage: Die losen Blätter, 383f.
  • Baum 1962 - Vicki Baum: Es war alles ganz anders. Berlin u. a. 1962.
  • Bertschik 2006 - Julia Bertschik: Die Ironie hinter der Fassade. Vicki Baums neusachliche Komödie aus dem Schönheitssalon „Pariser Platz 13“ (1930). In: Vicki Baum: Pariser Platz 13. Eine Komödie aus dem Schönheitssalon und andere Texte über Kosmetik, Alter und Mode. Hg. v. Julia Bertschik. Berlin 2006, 192–216.
  • Capovilla 2001 - Andrea Capovilla: Fiktionalisierungen der „Neuen Frau“ im Kontext der Neuen Sachlichkeit – Frieda Geier, Helene Willfüer, das „kunstseidene Mädchen“. In: Geschlechter. Essays zur Gegenwartsliteratur. Hg. v. Friedbert Aspetsberger und Konstanze Fliedl. Innsbruck u. a. 2001, 96–113.
  • Frank/Scherer 2022 - Gustav Frank und Stefan Scherer: Umrisse einer Poetik der Globalen Synthese. In: Text + Kritik 235, 2022: Vicki Baum. Hg. v. Julia Bertschik u. a., 71–80.
  • King 1988 - Lynda J. King: Best-Sellers by Design. Vicki Baum and the House of Ullstein. Detroit 1988.
  • King 1995 - Lynda J. King: Vicki Baum an the “Making” of Popular Success: “Mass” Culture or “Popular” Culture? In: Woman in German Yearbook 11, 1995, 151–169.
  • King 2004 - Adam Ryan King: The Pedagogy of Pulp: Liberated Sexuality and Its Consequences through the Eyes of Vicki Baum’s stud. chem. Helene Willfüer. In: Detectives, dystopias, and Poplit. Hg. v. Bruce B. Campbell u. a. Rochester 2014, 183–206.
  • Nottelmann 2007 - Nottelmann, Nicole: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie. Köln 2007.
  • Tillrot 1931 - Tillrot: Kollektiv-Klage junger Mädchen. Inhalt von heute. In: Uhu 7, 8, Mai 1931, 84.