Wir und die Anderen: Amerika
Biografische Eckdaten verdeutlichen, wie sich Vicki Baums USA-Reisen von der Romanhandlung unterscheiden: Während die Autorin aus beruflichen Gründen nach New York kam, sind Marions Reisemotive privater Natur, wenn sie den Geschäftsmann John Sprague besucht, einen frisch verwitweten Amerikaner, den sie in Moskau auf Geschäftsreise kennengelernt hat. Marions Sicht auf Amerika wandelt sich im Verlauf des Romans: Vor ihrem ersten USA-Aufenthalt beschreibt sie noch das im Europa der Vorkriegszeit vorherrschende, naive und klischeebehaftete Amerikabild, „wo edelmütige Indianer herumgingen und die brutalen Goldsucher skalpierten, und wohin gute Familien ihre schwarzen Schafe von Söhnen schickten, die dort als Zeitungsverkäufer anfingen und als fabelhaft reiche, wenn auch verschrobene Magnaten endeten.“ (445) Als Marion nach dem Tod von Johns Frau in die USA reist, fühlt sie sich als Europäerin zunächst wie eine „bleierne Ente im tiefen Wasser“ (490). Dennoch verliebt sie sich zunehmend in das Land und nimmt New York als eine Stadt wahr, mit der Wien, Berlin, Paris oder London nicht mithalten können. Marion gefällt die Freiheit der Menschen in Amerika, das dortige Leben erscheint ihr – in neusachlicher Begrifflichkeit – wie eine „gutgeölte Maschine“ (491). Nach einiger Zeit ist sie „eine recht gute Amerikanerin“ (491) geworden und auch während ihres Besuchs in Europa wird ihre fortschreitende Amerikanisierung deutlich: So wundert sie sich, dass man Rechnungen in Deutschland nicht einfach unterschreiben kann und wird von Florian Rieger als „echte Amerikanerin“ (623) bezeichnet, die immer in Eile ist.
Ihre neuen Landsleute beobachtet Marion genau und stellt (z. T. etwas verallgemeinernde) Zusammenhänge zwischen deren Charaktereigenschaften und sozialen Gewohnheiten her:
Ich wußte nicht, daß viele Amerikaner trinken müssen, um tanzen zu können, um geistreich zu sein, ein Geschäft zu deichseln, eine Liebeserklärung zu machen oder auch nur um über sich selber zu sprechen. Sie tun es wohl, um ihre angeborene Schüchternheit und ihre Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden […]. (486)
Baums Autobiografie enthält eine sehr ähnliche Analyse amerikanischer Trinkgewohnheiten (vgl. Baum 2019, 501) sowie Beschreibungen der USA, die neben ungeteilter Begeisterung auch Kritik an der US-amerikanischen Verschwendungssucht und Prüderie enthalten (vgl. Gürtler 2013, 261). Ähnliche Ambivalenzen durchziehen Baums Essays der 1930er Jahre Ein bißchen New York: Vom guten Aussehen (1931), Ich entdecke Amerika (1932) oder Zwangsarbeit in Hollywood (1936) (vgl. Baum 2018b) sowie weitere Romane, die sich mit Amerika auseinandersetzen, wie der in einem New Yorker Warenhaus angesiedelte Roman Der große Ausverkauf (1937) oder The Mustard Seed (1953, dt. Kristall im Lehm), der nicht nur psychologische Fallstudien anstellt, sondern auch Rassismus und sexuelle Gewalt in den USA verhandelt (vgl. Thunecke 2013).
Ein widersprüchliches Bild der USA liefert auch Marion lebt. Während John seine sexuelle Enthaltsamkeit betont und meint, die Amerikaner seien „nicht so spitzfindig wie eure europäischen Männer“ (487), ist Marion vom Verhalten der Frauen und Männer verwirrt, die auf Partys offen flirten, aber gleichzeitig prüde und konservativ scheinen. Marion hat sich die amerikanischen Gewohnheiten im zwischenmenschlichen Umgang schnell angeeignet und irritiert in einer späteren Begegnung Christopher mit ihren Emotionen: „Aber ich kam ja aus Amerika, wo die Menschen über sich selbst sprechen und am intimsten Privatleben der Nebenmenschen interessiert sind, und ich mußte reden, sonst wäre ich explodiert.“ (693) Das amerikanische Interesse am Privatleben der anderen erwähnt Baum bereits in ihrem Essay Ich entdecke Amerika (vgl. Baum 2018a, 277). Marion zeigt sich als Grenzgängerin, die sowohl die amerikanischen als auch die europäischen Standards und Gepflogenheiten kennt, kommentiert und sich den jeweiligen Gegegebenheiten anpasst. Nationale Identitätskonzepte (wie auch ideologisch-politische oder religiöse, s. dazu die Abschnitte „Nationalsozialismus“ und „Stereotype vs. Konzepte jüdischer Identität“) sind für sie keine geschlossenen Systeme, sondern von Durchlässigkeit, Vielschichtigkeit und Brüchen gekennzeichnet: „Martin, mein hundertprozentiger Deutscher, verwandelt sich eifrig in einen echten Amerikaner. Hans, der deutsche Soldat, will davonlaufen. Und Michael, mein tapferer blonder kleiner Halbjude, klammert sich mit den Zähnen an den Nazismus.“ (610)
Stellenweise greift Baum auch hier auf Stereotypen zurück, um die amerikanische Mentalität zu beschreiben. So meint Marion bei der Darstellung der Flucht Florian Riegers aus Wien (s. auch „Zeitgeschichte und (österreichische) Kultur“), dass nur Amerikaner „genügend Courage und Humor […] haben, um das Risiko auf sich zu nehmen, die Obrigkeit um eines ihrer Opfer zu prellen.“ (671) Riegers Tarnung als Amerikaner erfolgt außerdem mithilfe von Kleidung eines amerikanischen Herrenausstatters, einer speziellen Brille und der Imitation eines Brooklyner Akzents.
Bereits in ihrem Essay Ich entdecke Amerika analysierte Baum wirtschaftliche und politische Entwicklungen in den USA und kontrastierte den immer noch hohen Lebensstandard sowie die amerikanische Dienstleistungsgesellschaft mit der Lebensrealität und wirtschaftlichen Not im Deutschland der 1930er Jahre: In den USA konstatierte sie lediglich ein „kleines bisschen Stagnation“ (Baum 2018a, 266). Im zehn Jahre später erschienenen Roman bemerkt Marion die zahlreichen Gespräche, die sich in Amerika um die Weltwirtschaftskrise und die wirtschaftliche Depression drehen. Im Gegensatz dazu steht die Darstellung einer vermögenden Gesellschaftsschicht und die kapitalistische Entwicklung, die anhand von Johns Firma vor Augen geführt wird:
Draußen standen hunderte Autos, hunderte Milchflaschen waren für die Mittagspause der Arbeiter aufgestellt. In der Kantine standen Blumen auf den Tischen, und es roch nicht nach aufgewärmtem Kohl. Da war ein Bord mit Malzmilch, Eiskrem und Fruchtsäften. Überall waren riesige Fenster, und die Leute hatten bei der Arbeit so viel frische Luft, Licht und Komfort wie möglich. Die Mädchen in den Packräumen trugen helle, kleidsame Uniformen. Es gab eine Zahnarztpraxis, einen Duschraum und eine Dachterrasse für Freiluftgymnastik. (510)
Marion bleibt dieser scheinbaren Idylle gegenüber jedoch auf kritischer Distanz und vergleicht die Arbeitsbedingungen in Amerika mit den Entwicklungen in Europa. Radikaler gegen den amerikanischen Vorzeigekapitalismus positioniert sich Baums 1943 veröffentlichter Roman The Weeping Wood (dt. Kautschuk 1945), der sich neben der kolonialistischen Ausbeutung auch den Kämpfen der amerikanischen Arbeiter*innen in Fabriken, dem Widerstand gegen Methoden der Arbeitsoptimierung sowie der schwierigen Etablierung von Gewerkschaften in den USA widmet.
Desiree Hebenstreit
Literatur
- Baum 2018a - Vicki Baum: Ich entdecke Amerika [1932]. In: Dies.: Makkaroni in der Dämmerung. Feuilletons. Hg. v. Veronika Hofeneder. Wien 2018, 265–281.
- Baum 2018b - Vicki Baum: Makkaroni in der Dämmerung. Feuilletons. Hg. v. Veronika Hofeneder. Wien 2018.
- Baum 2019 - Vicki Baum: Es war alles ganz anders. Erinnerungen. Köln 22019.
- Gürtler 2013 - Christa Gürtler: Doch keine „150-prozentige Amerikanerin“ – Vicki Baums kritische Liebesbeziehung zu Amerika. In: Lifestyle – Mode – Unterhaltung oder doch etwas mehr? Die andere Seite der Schriftstellerin Vicki Baum (1888–1960). Hg. v. Susanne Blumesberger und Jana Mikota. Wien 2013, 255–269.
- Thunecke 2013 - Jörg Thunecke: Vicki Baums Kritik an der amerikanischen Gesellschaft im Roman Kristall im Lehm. In: Lifestyle – Mode – Unterhaltung oder doch etwas mehr? Die andere Seite der Schriftstellerin Vicki Baum (1888–1960). Hg. v. Susanne Blumesberger und Jana Mikota. Wien 2013, 186–217.
