Rezeption

Kurz vor Erscheinen der englischsprachigen Erstausgabe von Marion Alive kündigte die New Yorker Exilzeitschrift Aufbau einen Teil-Vorabdruck des Romans im Cosmopolitan Magazine an (vgl. Anonym 1941). Die Annoncierung als „forthcoming best seller“ and „greater even than Vicki Baum’s ‚Grand Hotel‘“ (Baum 1942a, 135) zeugt von den hohen Erwartungen an den Text der Starautorin. Eine erste, am 6.2.1942 im Aufbau anonym publizierte Besprechung von Marion Alive charakterisiert die Protagonistin als „lebensfrohes, starkes Geschöpf“, das „die politischen Katastrophen unseres Jahrhunderts“ durchquert (Anonym 1942b). Die aus Berlin stammende Journalistin Vera Craener lobt in ihrer am 27.3.1942 veröffentlichten Rezension im Aufbau Vicki Baums Roman als „artistisch ausgezeichnet gemachtes Buch“ (V. C. 1942).

Angelegt wird hier bereits die Lesart als autobiografischer Roman, darüber hinaus aber die Funktion des Textes als „Zeitspiegel“ betont, der die „aus Europa gekommenen Leser“ begeistern wird, mit der „Vertrautheit der Konturen, die ihm aus diesem Spiegel entgegenblicken.“ (V. C. 1942) Außerdem wird die psychologisch gelungene Figurenzeichnung des Romans hervorgehoben, die auch Baums andere Texte auszeichne. Am 24.4.1942 veröffentlicht Craener einen Artikel, der sich Baums Umzug nach Amerika, den Erfahrungen in Hollywood und ihrer weiteren literarischen Entwicklung widmet. Der Artikel enthält Originalzitate Baums, die sowohl die Arbeit an ihrem Roman Kautschuk als auch die geplante Übersetzung von Marion Alive ins Deutsche betreffen (Craener 1942). Eine am 24.1.1942 im New Yorker erschienene Rezension betont die „human and touching incidents“ des Romans, der „sentimental but often thoroughly interesting“ (Anonym 1942c) sei. Es folgt eine Besprechung am 25.1.1942 in der New York Times, die zwar feststellt, „[n]one of her works can be called outstanding from a literary point of view but all of them are exceptionally entertaining” (Hauser 1942). Die Rezensentin Marianne Hauser betont jedoch, dass der Roman nicht sentimental werde, obwohl er mit zwei Weltkriegen schwierige Themen berühre, und vergleicht ihn mit antifaschistischen Filmen, die vor dem Hintergrund von Liebesgeschichten erzählt werden.

Kritischer – da aus sozialistisch orientierter Perspektive – zeigt sich eine am 15.6.1943 in der argentinischen Exilzeitschrift La otra Alemania/Das andere Deutschland veröffentlichte Rezension, die Baums fehlende politische Positionierung moniert, da der Roman die „Ratlosigkeit und Inkonsequenz der bürgerlichen Intelligenz“ (Serner 1943) zeige.

Trotz des Scheiterns der Protagonistin, „ins Künstlertum und in freies Menschentum“ (Serner 1943) zu fliehen, lasse die Darstellung der sozialen Verhältnisse keine Konsequenzen im Hinblick auf die revolutionäre Umgestaltung der Verhältnisse erkennen. Der Rezensent Germán Serner kritisiert außerdem die Darstellung der jüdischen Romanfiguren und stellt eine „Verherrlichung der Nordamerikaner“ fest sowie die „gehässigste und bösartigste Schilderung der Sowjetunion“ (Serner 1943). Er attestiert Baum zwar eine scharfe Beobachtungsgabe, die aber bei der Erfassung der sozialen Umstände versage. Analog zu Marions Stiefsohn im Roman klassifiziert er die Protagonistin politisch als „stinky liberal“ und endet mit dem Appell: „Es wäre Aufgabe der ‚Vickis‘ zu retten und zu helfen, das Licht zu entzünden, die Führerschaft zu übernehmen, die ‚Marions‘ nicht in der eisigen Nacht der einsamen Gletscherspalte erfrieren zu lassen.“ (Serner 1943)

Zu der bei Bermann-Fischer 1942 veröffentlichten deutschsprachigen Erstausgabe sind kaum Kritiken erhalten. Die Stockholmer Literaturzeitschrift Bonniers litterära magasin, die auch fremdsprachige Neuerscheinungen verzeichnet, weist 1942 sowohl auf die englisch- als auch auf die deutschsprachige Ausgabe von Marion lebt hin (vgl. Anonym 1942a; Anonym 1942d). Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird der Roman wieder von Bermann-Fischer beworben, der die deutschsprachige Ausgabe in der Anzeige der „Weihnachts-Bücher 1946“ auflistet, die im New Yorker Aufbau abgedruckt war (vgl. Bermann-Fischer 1946). In der Zeitschrift Die Friedenswarte meint 1946 eine Rezension, dass der Roman und „dessen tiefer Geist der Menschlichkeit eine starke Wirkung auf den Leser ausübt“ (R. G. 1946), und betont, dass Baum bei der Figurenzeichnung auf die „modernen Ergebnisse der Psychoanalyse“ (R. G. 1946) zurückgreife.

Zahlreiche Rezensionen sind zu der 1951 im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichten zweiten deutschen Übersetzung des Romans unter dem Titel Marion erschienen. Dass vor allem die biografischen Parallelen der Romanprotagonistin zur Autorin wahrgenommen wurden, war offenbar schon in der Aussendung des Verlags angelegt, wie eine Rezension anmerkte (vgl. Anonym 1952a). Die Festschreibung der autobiografischen Lesart und die – aus heutiger Sicht – vorrangig unpolitische Rezeption des Buches, die nur selten auf die umfangreichen Darstellungen und Kommentare zu historischen Begebenheiten Bezug nahm, sind wohl generellen Tendenzen der 1950er Jahre geschuldet, für die die unaufgearbeiteten Ereignisse der allzu nahen Vergangenheit Tabuthemen waren. So beklagt eine Rezension, die Baums Schreibweise aus traditionell misogyner Perspektive mit einem Kuchenrezept vergleicht, die angeblich einseitige Schilderung der Nazizeit: „[…] eine gründlichere und gerechtere Behandlung dieses Themas war wohl dem ‚Kuchen‘ nicht zuträglich.“ (Kochs 1952) Den Vorwurf einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit historischen Themen macht auch eine Rezension in der Wiener Zeitschrift Neue Welt und Judenstaat, die Marion als „haltloses Weibchen und dumme Gans“ bezeichnet und „Plattheiten oder kindische Verallgemeinerungen“ (Anonym 1952b) moniert. Zeittypische moralische Bedenken über die Protagonistin, die eine „Schamlosigkeit in moralischen Dingen“ zeige, äußert Heinz Rieder, der die Gefahr sah, dass das Publikum durch das „außerordentliche[] Erzählertalent“ Baums geblendet werde, die mit Herzlichkeit, Charme und Routine erzähle: „Man begreift, daß Millionen von Leserinnen dieser bedenkenlosen Autorin verfallen sind.“ (Rieder 1952) Die zeithistorischen Darstellungen wurden vor allem im Hinblick auf das US-amerikanische Publikum beanstandet: Man müsse bedenken, „daß nicht wenige Amerikanerinnen die deutschen Dinge fortan so sehen werden, wie der Roman sie darstellt.“ (Anonym 1952a) Vereinzelt werden die Erfahrungen Baums während des Nationalsozialismus angesprochen, „die so tapfer und selbstbewußt die Verfolgungen überstand“ (W. P. 1951). In der Rezeption lässt sich aber auch die Schuldzuweisung an Emigrant*innen beobachten, die Baum ja selbst im Roman verarbeitet hatte: Otto Küster bezeichnet die Schilderungen der Verhältnisse in Deutschland als „Unsinn“ und „Weltfremdheit“. Baum wisse als Emigrantin „von den Ereignissen, die sich seitdem in Deutschland abgespielt haben, gar nichts aus eigener Wahrnehmung. Anscheinend ist sie auch der deutschen Sprache nicht mehr mächtig, denn ihr Roman ‚Marion‘ ist eine Übersetzung, vermutlich aus dem Englischen […].“ (Küster 1952)

Derartige Vorwürfe und diese dem politisch-restaurativen Klima der Nachkriegszeit geschuldete durchwachsene Rezeptionsgeschichte konnten dem Erfolg des Romans beim Lesepublikum allerdings nichts anhaben. In der Literaturwissenschaft steht eine ausführliche Auseinandersetzung mit Marion lebt noch aus; bislang hat sich nur Veronika Hofeneder in einem Artikel dem alpinen Diskurs im Roman gewidmet (vgl. Hofeneder 2023). Darüber hinaus ist dieser vielschichtige Roman, der sich in seiner Ambivalenz und Komplexität eindeutigen Lesarten entzieht, auch für Fragestellungen im Bereich von Identitäts-, Diskurs- und Mentalitätsgeschichte, im Kontext von Gender und Exil sowie für narratologische und intertextuelle Analysen anschlussfähig.

Desiree Hebenstreit

Literatur

  • Anonym 1941 - Anonym: Neu erschienen: Vicki Baum’s neuer Roman [Rez.]. In: Aufbau, 24.10.1941, 7.
  • Anonym 1942a - Anonym: Marion Alive av Vicki Baum [Rez.]. In: Bonniers litterära magasin 11, 4, 1942, 328.
  • Anonym 1942b - Anonym: Marion Alive by Vicki Baum [Rez.]. In: Aufbau, 6.2.1942, 25.
  • Anonym 1942c - Anonym: Marion Alive by Vicki Baum [Rez.]. In: The New Yorker, 24.1.1942, 66f.
  • Anonym 1942d - Anonym: Marion lebt av Vicki Baum [Rez.]. In: Bonniers litterära magasin 11, 9, 1942, 751.
  • Anonym 1942e - Anonym: Vicki Baum: Books: All in a Lifetime [Rez.]. In: Time Magazine, 16.3.1942.
  • Anonym 1952a - Anonym: [Rez. Marion]. In: Das Bücherschiff, Februar 1952.
  • Anonym 1952b - Anonym: Vicki Baum: Marion [Rez.]. In: Neue Welt und Judenstaat, Mai/Juni 1952.
  • Baum 1942a - Vicki Baum: Marion Alive. In: Cosmopolitan 112, 1, 1942, 134–156.
  • Bermann-Fischer 1946 - Bermann-Fischer Verlag Stockholm – New York: Weihnachts-Bücher 1946. In: Aufbau, 13.12.1946, 22.
  • Craener 1942 - Vera Craener: Wiedersehen mit Vicki Baum. In: Aufbau, 24.4.1942, 21.
  • Hauser 1942 - Marianne Hauser: A Woman’s Story. Marion Alive. By Vicki Baum [Rez.]. In: New York Times, 25.1.1942.
  • Hofeneder 2023 - Veronika Hofeneder: Crevasses and Magic Mountains: Alpine Discourse in Vicki Baum’s Marion lebt (Marion Alive, 1942). In: The Draw of the Alps. Alpine Summits and Borderlands in Modern German-speaking Culture. Hg. v. Richard McClelland. Berlin 2023, 179–188.
  • Kochs 1952 - Erika Kochs: Vicki Baum: Marion [Rez.]. In: Bücherei und Bildung, April 1952.
  • Küster 1952 - Otto Küster: Vicki Baum: Marion [Rez.]. In: Harburger Anzeigen und Nachrichten, 2.2.1952.
  • R. G. 1946 - R. G.: Vicki Baum: Marion lebt [Rez.]. In: Die Friedenswarte 1/2, 1946.
  • Rieder 1952 - Heinz Rieder: Vicki Baum. Marion [Rez.]. In: Die Zeit im Buch 6, 1/2, 1952, 8f.
  • Serner 1943 - Germán Serner: Vicky Baum: Marion lebt [Rez.]. In: La otra Alemania/Das andere Deutschland, 6, 67, 15.6.1943, 19.
  • V. C. 1942 - V. C. [d. i. Vera Craener]: Marion Alive by Vicki Baum [Rez.]. In: Aufbau, 27.3.1942, 10.
  • W. P. 1951 - W. P.: [Rez. Marion]. In: Der Tag, 30.12.1951.