Nationalsozialismus

Im Gegensatz zur Annahme, Vicki Baum habe sich nie über den Holocaust geäußert (vgl. Nottelmann 2007, 308), werden in Marion lebt sehr wohl Konzentrationslager, Folter und Mord im nationalsozialistischen Deutschland thematisiert; darüber hinaus verhandelt Baum auch die kulturpolitischen Säuberungen in der Sowjetunion Anfang der 1920er Jahre und äußert sich kritisch über die kommunistische Planwirtschaft. Damit setzt der Roman eine Tendenz fort, die sich in Baums Texten bereits ab den 1930er Jahren abzeichnet: „Der Nationalsozialismus, seine Verfolgten und Opfer sind zentrale Themen ihrer in den 1930er- und 1940er-Jahren entstandenen Prosatexte.“ (Hofeneder 2018, 89)

Hier ist vor allem die Figur von Marions Sohn Michael interessant, der nichts von seinem jüdischen Vater weiß und bereits während seiner Schulzeit in Berlin der Hitlerjugend beitritt: „Er bespuckte einen jüdischen Mitschüler und bemalte die Wände seines Zimmers mit Hakenkreuzen.“ (479) Nachdem die Familie in die USA gezogen ist, wird er von Heimweh geplagt und besucht nationalsozialistische Veranstaltungen. Als er später in Heidelberg studiert, bemerkt Marion bei ihrem Besuch, wie präsent die Symbole des NS-Staates in Deutschland sind. Abseits des politisierten Alltags erkennt sie aber auch kleine Momente des Widerstands, wie Hitlerwitze, leise Zwischentöne im Gespräch und kleinere Regelüberschreitungen. In einem Lokal, das Marion mit Michael und der Familie seiner Verlobten in Heidelberg besucht, führt das Umdrehen des Tanzverbot-Schildes zu weitreichenden Konsequenzen. Baum zeigt dabei unterschiedliche mögliche Reaktionen auf das NS-Regime: Der Oberkellner erfüllt zwar pflichtbewusst seinen Dienst, mahnt aber nur widerstrebend Vorschriften ein. Ein am Nebentisch sitzender SS-Major beobachtet die Tat und erwirkt den Ausschluss des jungen Offiziers Hans Streit aus der Armee, der daraufhin versucht, Suizid zu begehen. Marions lakonischer wie aufmerksamer Kommentar lautet dazu: „Es erschreckte mich umso mehr, als gar nichts Düsteres und Geheimnisvolles dabei war. Es waren keine Konzentrationslagergreuel, keine nächtlichen erstickten Schreie gemarterter Opfer in Kellergewölben, keine Treibjagd auf Juden, Kommunisten und Feinde des Reichs.“ (571) Sie versucht, mit der Unterstützung ihres Neffen Hellmuth Klappholz, der im Kriegsministerium beschäftigt ist, die Konsequenzen im Fall Hans Streit abzufangen. In einem langen Gespräch durchbricht sie dessen ideologische Fassade, indem sie ihn daran erinnert, wie er sich selbst bei ihr als junger Mann vor der Polizei versteckt hat. Baum zeichnet sowohl Hellmuth als auch Michael als psychologisch ambivalente Charaktere, die unterschiedliche Facetten in sich vereinen und sich ideologisch nicht eindeutig festlegen lassen.

 

Wiener Heldenplatz, 15.3.1938. Public domain via Wikimedia Commons.

Als Marion später mit Michael nach Österreich fährt, um seine Augenkrankheit behandeln zu lassen, ist der nationalsozialistische Einmarsch bereits erfolgt, der zu Verfolgungen, Zerstörungen sowie zur Verhaftung und Internierung des jüdischen Arztes Dr. Konrad im KZ geführt hat. Michael ist allerdings davon überzeugt, „daß der Führer, wenn er solche Dinge erfahren würde, der erste wäre, die Schuldigen zu bestrafen“ (655). Die politischen Ansichten ihres Sohnes lassen Marion zwar innerlich „über mein unbelehrbares Kind“ (655) verzweifeln, die gute Beziehung mit ihrem Sohn ist ihr jedoch wichtiger als das politische Streitgespräch: „Erst hatte ich vor, die Sache mit ihm sofort an Ort und Stelle auszukämpfen, aber nach einem Blick auf sein verzerrtes Gesicht mit dem krampfhaften Lächeln gab ich es auf und machte mich auf den Weg zu Clara.“ (655) Hier folgt die Protagonistin anderen Leitlinien als Baum selbst, die wegen ideologischer Differenzen dem Regisseur Hanns Niedecken-Gebhart die langjährige Freundschaft aufkündigte, den sie seit ihrer Zeit in Hannover kannte:

Meinen besten Freund, Niedecken-Gebhardt, musste ich von der Liste streichen – zu der Zeit, als wir in Amerika von den Judengreueln hörten, arbeitete er ruhig unter dem Hitlerregime weiter. Der Schnitt war für mich sehr schmerzhaft. Und er war tief verletzt, verstand es überhaupt nicht – ein netter, anständiger Ehrenmann, ein seltsames Beispiel für den deutschen Gedächtnisschwund, dieses Phänomen, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen, um die Schreie von Auschwitz und Dachau nicht zu hören, alles wegzuschieben, hinunter ins Unterbewusstsein. Es liegt etwas Krankes darin, ein Schuldgefühl, so stark, dass man es ebenso wenig vergessen wie ertragen kann. (Baum 2019, 391f.)

Auch die nationalsozialistischen Konzentrationslager sind Thema: Marion berichtet ihrem Sohn über Schani, den Freund aus Jugendtagen, der in einem Lager gefoltert wurde: „[…] Sie haben ihm das rechte Trommelfell gesprengt – eine böse Sache, denn er ist Komponist‘, sagte ich, und dann schwiegen wir beide.“ (600) Hier fällt wieder die ideologische Durchlässigkeit auf, die Michaels Figur auszeichnet: So hilft dieser tatkräftig mit, als Florian Rieger aus Österreich flüchtet. Auf die verwunderte Nachfrage Marions, „‚[i]ch dachte, du bist ganz auf der Seite der Nazis, Junge – wie kommt es, daß du an einer Verschwörung gegen sie teilnehmen willst?‘“ kontert er: „‚Hier liegt ein Fall vor, in dem das Individuum mit der Idee in Konflikt geraten ist‘ […] ‚Ich glaube noch immer an ihre Weltanschauung, aber ich kann doch nicht Clara und – und – Renate im Stich lassen, wenn sie in der Patsche sind, nicht?‘“ (699f.) Der Roman nimmt auch hier keine klare politische Position ein, sondern stellt durch das gleichberechtigte Nebeneinander ambivalenter Perspektiven die inneren Konflikte und Unstimmigkeiten der Charaktere in den Vordergrund, was ein grundsätzliches Merkmal von Baums Erzählweise darstellt.

Die historische Grundlage von Baums literarischen Darstellungen der NS-Zeit basiert dabei auf Informationen, die sie u. a. über den seit 1941 ebenfalls im US-Exil lebenden Journalisten Curt Riess erhielt (vgl. Nottelmann 2007, 287). Riess hatte selbst mehrere Reportagen über NS-Deutschland verfasst, darunter Total Espionage (1941) und The Self-Betrayed (1942), sowie die Memoiren eines Soldaten der Luftwaffe unter dem Titel I was a Nazi Flier (1942) herausgegeben. Die über Riess erhaltenen Informationen waren darüber hinaus besonders für Baums 1944 veröffentlichten Roman Hotel Berlin ’43 wichtig, der während der NS-Zeit in Deutschland spielt.

Desiree Hebenstreit

Literatur

  • Baum 2019 - Vicki Baum: Es war alles ganz anders. Erinnerungen. Köln 22019.
  • Hofeneder 2018 - Veronika Hofeneder: „It’s swell to be here and lousy to have to go away.“ – Vicki Baums Publikationen in amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften. In: Germanistik Grenzenlos. Festschrift für Wynfrid Kriegleder zum 60. Geburtstag. Hg. v. Veronika Hofeneder und Nicole Perry. Wien 2018, 87–96.
  • Nottelmann 2007 - Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie. Köln 2007.