Diskurse des Exils
1942, im selben Jahr wie Marion lebt, publiziert Vicki Baum die Erzählungen This Healthy Life und Land of the Free, in denen sie zeithistorisch und gesellschaftspolitisch relevante Themen verhandelt. Zuvor hatte sie schon mit ihrem Roman Hotel Shanghai (1939) einen wichtigen Exilort europäischer Exilant*innen während der NS-Zeit in den Fokus gerückt (vgl. Kriegleder 2018, 50–55).
Baum kann sowohl aufgrund ihrer Themenwahl als auch aufgrund ihrer Biografie zu den Exilautor*innen gezählt werden. Nach ihren ersten beiden USA-Aufenthalten 1931 und 1932 wandert sie dauerhaft nach Amerika aus, im Januar 1933 erhält sie ihre Aufenthaltspapiere (vgl. Nottelmann 2007, 197). Briefe der Autorin dokumentieren Verhandlungen, die sie 1933 mit dem Ullstein Verlag und dem britischen Verleger Geoffrey Bles führte. Dort schreibt sie über ihre finanziellen Schwierigkeiten im Exil: „You know the present conditions in Germany and that no money which comes to Germany would ever return into my hands.“ (Brief Baum an Bles, 5.4.1933, AdK, Nr. 92) Besorgt bittet Baum um eine direkte Überweisung ihrer Anteile: „You will understand – I am sure – that after fixing my belt on the last notch for such a long time I am anxious at last and at least to get the money and not to have it arrested in Germany.“ (Brief Baum an Bles, 5.4.1933, AdK, Nr. 92) Details über die konkrete Lösung dieser finanziellen Angelegenheit sind nicht bekannt. In ihrer Autobiografie weist die Autorin aber darauf hin, dass das NS-Regime finanziell von der Auswanderung profitierte – vermutlich über die Reichsfluchtsteuer: „Wir hatten ein hübsches fünfstelliges Sparkonto, und als wir nach Amerika auswanderten, erlaubte man uns großzügig, fünfzig Mark davon mitzunehmen. Das übrige floss später in Hitlers Taschen.“ (Baum 2019, 472f.)
Während der 1930er Jahre publizierte der Amsterdamer Exilverlag Querido sowohl Neuauflagen von bereits erschienenen Texten (Der Eingang zur Bühne 1936, stud. chem. Helene Willfüer 1939) als auch neue Romane Baums (u. a. Das große Einmaleins 1935, Die Karriere der Doris Hart 1936, Der große Ausverkauf 1937, Liebe und Tod auf Bali 1937, Hotel Shanghai 1939). Emanuel Querido hatte gemeinsam mit dem ehemaligen Kiepenheuer-Verleger Fritz Landshoff ab 1933 ein Forum für die in Deutschland verbotene Literatur aufgebaut (vgl. Fischer 2021, 307–316). Wie Landshoff erwähnt, trug die Veröffentlichung der populären Werke Baums dazu bei, dass der Verlag auch schwerer verkäufliche Titel veröffentlichen konnte (vgl. Landshoff 1998, 115). Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Amsterdam gelang es Landshoff, mit dem Stockholmer Exilverlag Bermann-Fischer eine Vereinbarung für die Übernahme der deutschsprachigen Titel zu treffen (vgl. Nottelmann 2007, 278).
1942 veröffentlichte Bermann-Fischer dann die deutschsprachige Erstausgabe von Marion lebt. Die exiltypische Auseinandersetzung mit Erinnerung findet hier vor allem statt, als die mittlerweile in den USA lebende Protagonistin nach Wien zurückkehrt und beim Anblick der ehemaligen Heimatstadt große Enttäuschung empfindet. Marion beklagt die politische Radikalisierung in der Stadt: „Über Nacht hatte Wien sein Gesicht verändert.“ (641) Im Gegensatz zu den Erinnerungen aus ihrer Kindheit an eine nach Flieder duftende Stadt, bemerkt sie nun üble Gerüche sowie schlecht gelaunte und heruntergekommene Menschen; sie erkennt die ehemals vertraute Stadt nicht wieder und fühlt sich als „eine Fremde“ (617). Auch der Begriff des ‚Exils‘ wird einmal erwähnt, als sich Marion wundert, „wie gut sich viele dieser Menschen heute unter den endlosen Martern der Konzentrationslager, des Exils, der Flucht und des Krieges bewähren.“ (136)
Ebenso virulent ist die Auseinandersetzung mit Nationalitätskonzepten: Mit dem Hinweis auf ihre amerikanische Staatsbürgerschaft versucht Marion ihren Sohn Michael gegenüber dem SS-Major in Schutz zu nehmen: „‚Wir sind, wie Sie vielleicht wissen, Amerikaner; wir haben einen anderen Sinn für Humor.‘“ (564) Die Frage nationaler Identität wird auch später im Gespräch mit Michael diskutiert: „‚Ich mag nicht, daß du immer sagst: ,Ihr Amerikaner.‘ Vergiß nicht, daß du jetzt selbst Amerikaner bist.‘“ (608) Michael vertritt jedoch eine andere Position: „‚Ich bin Deutscher. Ich werde immer Deutscher sein. Wenn ich einundzwanzig bin, kann ich meine Heimat selbst wählen. Und das werde ich tun.‘“ (608) Marion wird – ebenso wie Baum, die 1938 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annahm (vgl. Gürtler 2013, 261) – amerikanische Staatsbürgerin, was ihr bei der Organisation der Flucht Florian Riegers mehr Handlungsspielraum verschafft: „Für mich als amerikanische Staatsbürgerin ist es viel leichter“ (651). Björn Sommersacher hat in Bezug auf Hotel Shanghai bemerkt, dass starre Nationsbegriffe oftmals eine „gelungene Akkulturation“ der Individuen verhindern (Sommersacher 2013, 230). Dies trifft sicherlich auch auf Marions Sohn Michael zu, der auf seiner deutschen Identität beharrt und dadurch seine Integration verhindert; Marion hingegen ist – trotz ihres zuweilen kritischen Blicks – gerne Mitglied der amerikanischen Gesellschaft.
Bemerkenswert ist, dass Marion lebt – zeitnah – die Vorwürfe gegenüber den ins Exil gegangenen Autor*innen thematisiert, so in den Worten eines NS-Majors:
Ich entsinne mich gehört zu haben, daß Sie deutscher Abstammung sind, wenn Sie sich auch jetzt Amerikaner nennen. Sie haben dieses Land in seiner schwersten Stunde verlassen, Sie und Ihre Söhne, und nun kommen Sie mit einem Sack voll Geld zurück, um sich dafür etwas wahre Kultur zu kaufen, sich über uns lustig zu machen und unserer arglosen Jugend Ihre anarchistischen Ideen einzupflanzen. (567)
Baum knüpft hier an eine literaturpolitische Debatte an, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs fortgesetzt wurde: Ausgehend von der öffentlichen Aufforderung Walter von Molos an Thomas Mann, aus dem US-amerikanischen Exil zurückzukehren, wurde eine von Vorwürfen geprägte öffentliche Diskussion um das größere Leid der ‚inneren‘ oder ‚äußeren‘ Emigranten geführt (vgl. Hermand/Lange 1999). Und auch in der polemischen Frage der Wirtin, ob Clara und Marion nicht Ausländerinnen seien, schwingen die Vorwürfe gegenüber Exilant*innen hinsichtlicher ihrer Flucht als auch dem Erwerb einer neuen Staatsangehörigkeit mit.
Fragen nach Sprache, Kultur und Identität beschäftig(t)en viele Exilant*innen (vgl. u. a. Krohn 1999; Bischoff u. a. 2014); so nahm auch Baum bereits in ihrem Essay Unglücklich in Hollywood! (1932) die „tausend Tonnenladungen von Heimweh“ (Baum 2018, 262) wahr, die emigrierte Europäer*innen umgaben. In ihrer Autobiografie schildert sie ausführlich die Jahre, die sie in den USA verbrachte (vgl. Baum 2019, 483–546), wobei sie dort neben den beruflichen Kontakten und den Arbeitsbedingungen in Hollywood auch über Schwierigkeiten im amerikanischen Alltag, das schlechte Essen oder fehlende Spaziergänge berichtet. Trotz ihrer Liebe zu Amerika begleitete sie lebenslang das Heimweh nach Österreich (vgl. Baum 2019, 569f.; Lube 1990), das für die Autorin durch den frühen Verlust der Mutter noch eine weitere besondere Bedeutung hat (vgl. Sillars 2016, 169f.).
Marion verspürt im Gegensatz dazu bei ihrem Aufenthalt in Deutschland „grenzenloses Heimweh nach New York“ (582) und die Sehnsucht, „wieder in Amerika zu sein und die Leiden dieses aufgewühlten, verworrenen und angsterfüllten Kontinents zu vergessen.“ (637) Dass der Brief, den sie in den USA von der befreundeten Großherzogin aus Bergheim erhält, „der Duft einer versunkenen Welt, der Duft vergangener Jugend“ (584), jedoch ebenso Heimweh – diesmal nach Europa – auslöst, vermittelt die Unerreichbarkeit der Heimat. Mit der für Baum typischen, alle Ambivalenzen auslotenden Erzählweise, werden in der Geschichte des jüdischen Arztes Dr. Konrad andere zentrale Schwierigkeiten des Exils angesprochen. Dieser erwägt zwar eine Auswanderung in die USA, hat aber nicht mehr ausreichend Kraft und Mut dazu: „‚Er will nicht all die erforderlichen Prüfungen machen und um eine Position kämpfen. Auch fürchtet er, die Sprache nicht mehr zu erlernen.‘“ (694) Die Protagonistin Marion hingegen hat diese Hürde auf sich genommen – genauso wie Vicki Baum, die sich auch im Exil erfolgreich als Autorin etablieren konnte.
Desiree Hebenstreit
Siglen
- AdK - Akademie der Künste, Berlin, Vicki-Baum-Archiv
Literatur
- Baum 2018 - Vicki Baum: Unglücklich in Hollywood! Das Leben der großen und kleinen Sterne [1932]. In: Dies.: Makkaroni in der Dämmerung. Feuilletons. Hg. v. Veronika Hofeneder. Wien 2018, 259–264.
- Baum 2019 - Vicki Baum: Es war alles ganz anders. Erinnerungen. Köln 22019.
- Bischoff u. a. 2014 - Doerte Bischoff u. a. (Hg.): Sprache(n) im Exil. München 2014.
- Fischer 2021 - Ernst Fischer: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Bd. 3: Drittes Reich und Exil. T. 3: Der Buchhandel im deutschsprachigen Exil 1933–1945. Teilbd. 1. Berlin und Boston 2021.
- Gürtler 2013 - Christa Gürtler: Doch keine „150-prozentige Amerikanerin“ – Vicki Baums kritische Liebesbeziehung zu Amerika. In: Lifestyle – Mode – Unterhaltung oder doch etwas mehr? Die andere Seite der Schriftstellerin Vicki Baum (1888–1960). Hg. v. Susanne Blumesberger und Jana Mikota. Wien 2013, 255–269.
- Hermand/Lange 1999 - Jost Hermand und Wigand Lange: „Wollt ihr Thomas Mann wiederhaben?“ Deutschland und die Emigranten. Hamburg 1999.
- Kriegleder 2018 - Wynfrid Kriegleder: Narrative Strategien zur Verarbeitung der Shanghaier Exilerfahrung bei Vicki Baum, Alfred W. Kneucker und Franziska Tausig. In: Jüdisches Österreich – Jüdisches China. Geschichte und Geschichten aus dem 20. Jahrhundert. Hg. v. Liu Wei u. a. Wien 2018, 48–61.
- Krohn 1999 - Claus-Dieter Krohn (Hg.): Sprache – Identität – Kultur: Frauen im Exil. München 1999.
- Landshoff 1998 - Fritz Landshoff: Eine vortreffliche Freundin. In: apropos Vicki Baum. Hg. v. Katharina von Ankum. Frankfurt/Main 1998, 115f.
- Lube 1990 - Barbara Lube: „Nirgends mehr zu Hause“. Vicki Baums ungestilltes Heimweh. In: Rückkehr aus dem Exil. Emigranten aus dem Dritten Reich in Deutschland 1945. Essays zu Ehren von Ernst Loewy. Hg. v. Thomas Koebner und Erwin Rotermund. Marburg 1990, 43–54.
- Nottelmann 2007 - Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie. Köln 2007.
- Sillars 2016 - Rose Sillars: Vicki Baum’s Exile Novels. In: Exile and Gender I. Literature and the Press. Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies. Hg. v. Charmian Brinson und Andrea Hammel. Leiden und Boston 2016, 161–171.
- Sommersacher 2013 - Björn Sommersacher: Vicki Baum: Hotel Shanghai (1939). In: Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Hg. v. Bettina Bannasch und Gerhild Rochus. Berlin und Boston 2013, 226–233.

