Rezeption
In den amerikanischen Rezeptionszeugnissen ist von einem außerordentlichen Buch die Rede und wird die hohe Informationsdichte des Romans gewürdigt, schließlich bemerkt die Rezensentin der New York Times noch, dass Vicki Baum ihr Buch nicht besser hätte schreiben können: „It was a big job Miss Baum marked out for herself. She may well be satisfied, for it is hard to see how she could have done a better one.“ (Baker 1943) In einer Besprechung für die New York Herald Tribune wird vor allem die Aktualität des Textes hervorgehoben und dabei auf die Schreibqualitäten Baums („a first-rate story-teller“) verwiesen: „a story of importance to the world as well as those who lived it. Miss Baum’s book has the drama and suspense of a novel, crowded with convincing glimpses of people of colors, times and places.“ (Ross 1943)
Der Herausgeber von The Commonweal äußert zwar die Vermutung, dass Baum in ihrem Roman kein neues Genre eröffnet habe, originell sei der Text dennoch, ja partienweise sogar „excellent – nervous and well articulated“, wiewohl vermeintlich Sexuelles und auch Darstellungen von Gewalttaten gerügt werden: „But she also includes the heroism of those who were driven by some strange urge to make this mysterious sap available of our comfort.“ (Editors' Choice 1943, 234) Der Rezensent für The New Republic stellt zu Recht fest, dass Baums Roman eigentlich in zwei verschiedenen Teilen erscheint, einem ersten Teil, der zeigt, wie die Weißen überhaupt an den Gummi kamen, und einem zweiten, der die (internationale) Entwicklung der industriellen Verarbeitung des Gummis bis in damals tagesaktuelle Zusammenhänge hinein verdeutlicht. Dabei bleibt er freilich an der Textoberfläche von Baums Roman stecken und beschränkt sich auf eine Inhaltsangabe; unbelegt auch seine Behauptung von vielen Fehlern, die es etwa im achten Kapitel „The Akron labor story“ gebe (vgl. Wolf 1944). Insgesamt, urteilt auch Nicole Nottelmann, wurde der Roman in den USA ein „kommerzieller Hit und ein Kritikererfolg. […] Der Roman hielt sich fünf Wochen lang in den Top Ten der Bestsellerliste der New York Times.“ (Nottelmann 2007, 288)
Eine der ersten Rezensionen der deutschen Ausgabe, allerdings noch der anonymen Übersetzung von Kautschuk, findet sich 1946 in der Züricher Zeitschrift Die Friedenswarte:
In fesselnder Form werden wir mit einer Entwicklung vertraut gemacht, welche über Felder von Leichen ausgebeuteter Menschen zu immer erstaunlicheren Fortschritten der Technik führte. Der Kautschuk ist das Symbol der grossen Tragödie, welche die Menschheit zwar der Beherrschung des Alls nähergebracht, ihren tiefsten Kern aber in einem bedenklichen Licht gezeigt hat. (H. W. 1946)
Die Berliner Tageszeitung Der Abend nennt am 20.1.1953 in ihrer Rubrik Der Abend ermittelt Bucherfolge „jetzt auch Vicky Baum mit ihrem Kautschuk-Buch.“ (Abend 1953a) Einen Monat später heißt es dann an derselben Stelle, dass bei den „teuren Bänden“ neben Giovannino Guareschi, John Steinbeck und F. Scott Fitzgerald auch Vicki Baum herausrage (Abend 1953b).
Interessant und bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich Baums Verleger J. C. Witsch selbst bei Redakteuren und Publizisten für seine neue Hausautorin eingesetzt hat; so schreibt er z. B. am 9.1.1952, nachdem Marion Alive bei ihm unter dem Titel Marion herausgekommen und die Veröffentlichung von Kautschuk unter dem Titel Cahuchu für den Herbst vorgesehen ist, an Hans Schwab-Felisch, damals Feuilleton-Redakteur der Berliner Neuen Zeitung und einer der wichtigsten Literaturkritiker der jungen deutschen Bundesrepublik, dass es ihm sehr daran gelegen sei, Baums Roman besprochen zu sehen:
Der Titel liegt noch nicht genau fest: Tränenholz oder Der weinende Baum oder Der blutende Wald, ein Roman, äußerst farbenreich und sehr intensiv um den Gummibaum, ein Buch, das ich dieser Autorin nie zugetraut hätte. Aber bringe nun einer die Zeitungsleute und die Buchhändler dazu, Vicki Baum so sehen zu lernen, wie sie in Amerika, Skandinavien und der Schweiz, eigentlich überall in Europa, mit ihren neuen Büchern gesehen wird und bewertet ist! In Deutschland bleibt es die erfolgreiche Autorin der Berliner Illustrierten. Ich finde nicht, daß Vicki Baum nun plötzlich eine großartige Dichterin geworden ist. Ich finde, daß ihre neueren Bücher, wie immer, technisch glänzend, daß sie sprachlich aber viel gefügter und auch substantieller, daß sie inhaltlich und in der Fabel spezifischer, und zwar spezifischer positiv modern sind.
Witsch selbst schreibt schließlich für die eigene Presseabteilung einen kurzen Artikel, der zu Werbezwecken benutzt worden ist:
Buchhandel und Publikum zeigen in den letzten Jahren eine merkwürdige Zurückhaltung gegenüber den Romanen von Vicki Baum, die in den 20er Jahren mit Menschen im Hotel und mit Stud. Chem. Helene Willfüer ungewöhnliche Auflagenziffern erreicht hat. Dabei ist die Autorin in der Zwischenzeit nicht schlechter, sondern besser geworden! In den angelsächsischen Ländern sind ihre Erfolge noch größer als sie in den 20er Jahren in Deutschland waren. Merkwürdig nennen wir diesen Umstand, weil wir doch bei Gott keinen Überfluß an realistischer, sprachlich sauberer Unterhaltungsliteratur haben, an jener Unterhaltungsliteratur, die – wie die angelsächsische – eine eigene und in sich bedeutende Gattung der Literatur darstellt. Merkwürdig ist noch ein dritter Umstand: Alle deutschen Buchgemeinschaften haben, eben weil der Buchhandel sich relativ desinteressiert gezeigt hat, mit den neueren und immer noch mit den älteren Romanen von Vicki Baum ungewöhnliche und ständig wachsende Erfolge. Erfolge eines Autors in den Buchgemeinschaften sind oft das Ergebnis, oder besser gesagt, die Folge der Unterlassungen, des Desinteresse des Buchhandels. Muss das so sein? […] (HAStK-RBA, Best.1514, A 788)
Ähnlicher Meinung scheint auch die für Baum zuständige Lektorin bei Kiepenheuer & Witsch, Alexandra von Miquel, gewesen zu sein, die in einem Verlagsgutachten bemerkt:
„Kautschuk“ hat mehr Gewicht als „Das Senfkorn“ [gemeint ist Baums Roman The Mustard Seed (1953), der im selben Jahr unter dem deutschen Titel Kristall im Lehm herauskam]. Meiner Meinung nach deshalb, weil bei „Kautschuk“ die Wahl des Vorwurfs glücklicher war, nicht weil die Geschichte des Kautschuks menschlich interessanter ist, sondern weil dieses Thema die Autorin zu einer größeren Sachlichkeit, zur Darstellung genauer Fakten führte. (HAStK-RBA, Best. 1514, A 788)
Der Tenor der überwiegend kurzen Besprechungen ist dann durchweg sehr positiv. Wiederholt wird auf die Besonderheit hingewiesen, dass Baum „nüchterne Tatsachen und Statistiken, Sitzungsberichte und Konferenzprotokolle mit Erfundenem […] zu mischen“ verstehe (Mn 1952). „Historische Tatsachen und wissenschaftliche Angaben verbinden sich im Spiel der Phantasie zu Schilderungen, die mit der nüchternen Kraft der Sozialkritik und der faszinierenden Wortsicherheit der Romanroutine dem Strom der Baum- und Menschentränen folgen.“ (ks 1952) Dabei werden verschiedentlich Vergleiche zu anderen Autoren gezogen, etwa zu Wolfgang Jünger oder auch Karl Aloys Schenzinger, die ähnliche thematische Komplexe behandelt haben: „Das äußerst wichtige Feld der ‚Tatsachen-Romane‘ in der Art von Schenzingers Anilin und Metall wird durch dieses Buch bereichert.“ (Müller 1953) Und:
Erstaunlich ist bei Vicki Baum die umfassende Kenntnis des Technischen und anziehend bei Jünger die Verbindung, die er zwischen Weltwirtschaft und Leben herstellt. Beide Bücher geben Ausblicke in die Zukunft. Und es ist kein Wunder, daß alle, die mit Kautschuk zu tun haben, an ihm ‚kleben‘ bleiben, ja, daß es so viele total ‚Kautschukverrückte‘ gibt, wie Vicki Baum es ausdrückt. (erm. 1953)
Schwierigkeiten scheinen die Rezensent*innen allerdings mit der raffinierten ästhetischen Konzeption des Romans zu haben, denn einmal ist die Rede von einem „großartige[n], spannende[n] Tatsachenbericht“ (Hamann 1953), einmal sogar – völlig unverständlich – von einer „ausgedehnte[n] Reportage“ (Anonym 1953), während ein anderer Rezensent im Unterschied dazu gerade den Romancharakter betont und davon spricht, dass dieser Roman, „so ganz anders als die ‚Tatsachenberichte‘ über den Rohstoff Gummi, eins ihrer besten Bücher“ sei (W. 1953). Vereinzelte Kritiker*innen werfen Baum zwar „kolportagehafte Elemente“, „kleine Schönheitsfehler“ sowie „unnötige Effekte“ vor, um dann aber – wie Herbert Wendt – festzustellen, dass man diese verzeihen könne, „weil das Buch nicht nur ausgezeichnet geschrieben ist, sondern weil sich die Autorin auch nach Kräften bemüht hat, dem Stoff gerecht zu werden.“ (Wendt 1953) Einzig christkatholische Rezensent*innen monieren Baums Roman, dem „billige Effekte“ sowie „eine gewisse sittliche Indifferenz, da und dort auch ein[] Mangel an gutem Geschmack“ vorgeworfen werden (Rieder 1954).
Anlässlich der Sonderausgabe des Romans 1969 im Rahmen der Reihe „Die Bücher der Neunzehn“ erschienen weitere Rezensionen (gesammelt vorhanden in: HAStK-RBA, Best. 1514, A 502), die aus der Bundesrepublik Deutschland, Österreich, der Schweiz, aber auch aus Argentinien und den USA stammen. Deren Tenor fällt rundum sehr positiv aus, wobei mit gewachsenem historischen Abstand jetzt auch die politischen, kultur- und sozialpolitischen sowie US- und kapitalismuskritischen Aspekte des Romans angesprochen werden:
In der Tat ist die Geschichte des Naturgummis zugleich als eine Geschichte menschlicher Ingeniosität und Industrialität, aber auch als eine Geschichte menschlichen Ausbeutertums und Sklaverei, als eine Geschichte des wirtschaftlichen und politischen Imperialismus des Abendlandes ein höchst dramatisches und grausames Kapitel der jüngeren Historie, wie ich, ich gesteh’s, auch erst aus der Lektüre von „Cahuchu“ weiss. (J. Z. 1969)
Ganz im Ton der frühen 1970er Jahre heißt es dann mit Blick auf die Aktualität von Baums Roman einmal:
Nicht unbedingt antiamerikanisch, deckt das Buch so manche Mängel des ‚Landes der unbegrenzten Möglichkeiten‘ auf und läßt den Leser verwirrt zurück, der sich nun ein eigenes Bild über den Wohlstand und die Annehmlichkeiten, die durch Gummi entstanden, machen kann. Ein Buch, das für alle, die mehr als nur einen Roman wollen, eine wertvolle Bereicherung des Bücherschranks sein dürfte. (Anonym 1972)
Stiefmütterlich ist der Roman bislang von der Literaturwissenschaft behandelt worden. Außer entsprechenden Einträgen in Literaturlexika, Handbüchern und Nachschlagewerken (etwa Bell 1976 oder Koepke 1989) sowie kurzen Erwähnungen in anderen, größeren Zusammenhängen (etwa Holzner 1984 und 1985 oder Krechel 2015) existieren lediglich drei Aufsätze, die Baums Text einerseits im Kontext der Exilliteratur samt ihrer ästhetisch-poetologischen Debatten diskutieren und dabei auf Georg Lukács‘ Konzept des historischen Romans verweisen (Loster-Schneider 2002), andererseits den Roman als Baums Beitrag zu einer zeitgenössischen Kolonialismus- und Kapitalismuskritik deuten (Jung/Löffler 2022). Katja Kauer weist zudem auf den Zusammenhang von populärer Unterhaltungsliteratur auf der einen und Baums Ideologiekritik auf der anderen Seite hin, um am Ende zu resümieren, dass Baums Roman „ideologiekritisch ohne Überbau“ sei, worunter sie versteht, dass die polyrhythmische „Vielschichtigkeit des Erzählten“ (Kauer 2022, 92f.) eine mehrdeutige Les- und Verständnisart ermögliche.
Werner Jung
Siglen
- HAStK-RBA - Historisches Archiv der Stadt Köln, Kiepenheuer & Witsch-Nachlass
Literatur
- Abend 1953a - Der Abend ermittelt Bucherfolge. In: Der Abend, 30.1.1953.
- Abend 1953b - Der Abend ermittelt Bucherfolge. In: Der Abend, 27.2.1953.
- Anonym 1953 - Anonym: [Rez. Cahuchu]. In: Bücherschiff 3, 4, 1953.
- Anonym 1972 - Anonym: Kautschuk – auch eine Tragödie. In: Trierische Landeszeitung, 3.9.1972.
- Baker 1943 - Nina Brown Baker: Jungle Gold. In: The New York Times, 17.10.1943.
- Bell 1976 - Robert F. Bell: Vicki Baum. In: Deutsche Exilliteratur seit 1933. Bd. 1: Kalifornien, T. 1. Hg. v. John M. Spalek und Joseph Strelka. Bern und München 1976, 247–258.
- Editors' Choice 1943 - Editors' Choice: Villain Rubber [Rez.]. In: The Commonweal, 17.12.1943, 233f.
- erm. 1953 - erm.: Weltweite Kämpfe um Kautschuk [Rez.]. In: Die Gummi-Bereifung, 25.1.1953.
- H. W. 1946 - H. W.: [Rez. Kautschuk]. In: Die Friedenswarte 1/2, 1946.
- Hamann 1953 - Edith Hamann: Romanheld Kautschuk [Rez.]. In: Berliner Telegraf, 8.2.1953.
- Holzner 1984 - Johann Holzner: Literarische Verfahrensweisen und Botschaften der Vicki Baum. In: Erzählgattungen der Trivialliteratur. Hg. v. Zdenko Škreb und Uwe Baur. Innsbruck 1984, 233–250.
- Holzner 1985 - Johann Holzner: Zur Ästhetik der Unterhaltungsliteratur im Exil am Beispiel Vicki Baums. In: Schreiben im Exil. Zur Ästhetik der deutschen Exilliteratur 1933–1945. Hg. v. Alexander Stephan und Hans Wagener. Bonn 1985, 236–249.
- J. Z. 1969 - J. Z.: [Rez. Cahuchu]. In: I. F. A. Information für alle 16, 31–32, 1969.
- Jung/Löffler 2022 - Werner Jung und Pascal Löffler: Von der Dialektik des Fortschritts. Vicki Baums „Cahuchu“. In: Text + Kritik 235, 2022: Vicki Baum. Hg. v. Julia Bertschik u. a., 53–61.
- Kauer 2022 - Katja Kauer: Populärdiskurs und Ideologiekritik. Die Polyrhythmik in den Werken von Vicki Baum am Beispiel von The Weeping Wood/Cahuchu. Strom der Tränen (1943). In: Peter Weiss Jahrbuch 31, 2022, 57–93.
- Koepke 1989 - Wulf Koepke: Exilautoren und ihre amerikanischen Verleger in New York. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2: New York. Hg. v. John M. Spalek und Joseph Strelka. Bern 1989, 1418–1445.
- Krechel 2015 - Ursula Krechel: Die Dirigentin des großen Bahnhofs: Vicki Baum. In: Dies.: Stark und leise. Pionierinnen. Salzburg und Wien 2015, 114–131.
- ks 1952 - ks: Baum- und Menschentränen [Rez.]. In: Darmstädter Echo, 17. 12. 1952.
- Loster-Schneider 2002 - Gudrun Loster-Schneider: Exotisches, Vergangenes, Anderes? Nationalkulturelle Differenzerfahrungen in Vicki Baums Roman Kautschuk (1943/1945). In: Erfahrung nach dem Krieg. Autorinnen im Literaturbetrieb 1945–1950. BRD, DDR, Österreich, Schweiz. Hg. v. Christiane Caemmerer u. a. Frankfurt/Main u. a. 2002, 265–286.
- Mn 1952 - Mn: Cahuchu, Strom der Tränen [Rez.]. In: Neue Zürcher Zeitung, 9.11.1952.
- Müller 1953 - Wilhelm Müller: Vicki Baum: Cahuchu [Rez.]. In: Bücherei und Bildung 5, 3/4, 1953.
- Nottelmann 2007 - Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie. Köln 2007.
- Rieder 1954 - Heinz Rieder: Vicki Baum, Cahuchu [Rez.]. In: Die Zeit im Buch 1/2, 1954.
- Ross 1943 - Mary Ross: Novels With Far-Flung Scenes. In: New York Herald Tribune Weekly Book Review, 24.10.1943.
- W. 1953 - W.: [Rez. Cahuchu]. In: Hessische Nachrichten, 7.3.1953.
- Wendt 1953 - Herbert Wendt: Kautschuk-Roman [Rez.]. In: Neue literarische Welt, 25.5.1953.
- Wolf 1944 - Ralph Wolf: The Hand of Esso [Rez.]. In: The New Republic, 7.2.1944.
