Postkolonialismus und Exil

Lesbar ist Vicki Baums Roman noch hinsichtlich weiterer Perspektiven: Der erste Teil, insbesondere die Kapitel 1, 3, 6 und 7, die sich mit der Entdeckung, Verbreitung und Exploitation des Naturkautschuks beschäftigen und die in Mittel- und Südamerika wie auf Sumatra angesiedelt sind, kann unter postkolonialen Gesichtspunkten betrachtet werden. Und dann lassen sich einzelne Kapitel aus dem zweiten Teil, die die maschinelle Behandlung bis zur Erfindung des Kunstkautschuks und dessen Einsatz im Zweiten Weltkrieg behandeln und damit bis in Baums Schreibgegenwart heranreichen, durchaus auch als Baums Beitrag zur Exilproblematik deuten. Baum hat sich selbst nach dem Eintritt der USA ins Weltkriegsgeschehen – auch in Anlehnung an ihr früheres literarisches Vorbild und ihren aktuellen Exilfreund Thomas Mann – als ‚entwurzelt‘ bezeichnet, die im Roman nachgezeichnete „Entdeckung, Verpflanzung, kulturelle Hybridisierung und endliche Repatriierung des Kautschuk-Baumes“ (Loster-Schneider 2002, 271) ist ihr dafür Sinnbild.

Mit dem Ansatz der Postcolonial Studies und dem „postkolonialen Blick“ (Lützeler 2017, 208), der die kritische Perspektive auf koloniale Machtsysteme meint, lässt sich – durchaus avant la lettre – Baums Roman, etwa die Kapitel 1 und 3, entsprechend interpretieren. Denn die Autorin von Kautschuk thematisiert nicht nur die Ausbeutung indigener Stämme Brasiliens bis zur völligen Vernichtung (Kapitel 7), sondern zeigt auch (partiell zumindest), wie sich die Weißen, etwa in Gestalt des katholischen Priesters Pater Anselmus, verändern können. Kapitel 6, das auf einer Kautschukplantage auf Sumatra spielt und im Amoklauf eines sogenannten ‚Kulis‘ endet, lässt sich schließlich im Blick auf den von der Komparatistin Mary Louise Pratt geprägten Begriff der ‚Kontaktzone‘ dahingehend lesen, dass es in den von starken Machthierarchien strukturierten Räumen, diesen Machtverhältnissen zum Trotz, zu selektiven Transferprozessen unterschiedlicher kultureller, ethnischer oder nationaler Gruppen kommen kann (vgl. Pratt 1991) bzw., in den Worten der Anglistin Patricia Bizzell, die Pratts Ansatz weiterverfolgt hat, dass es „in historisch definierten Kontaktzonen“ um die Analyse von „Momenten [geht], um die verschiedene Gruppen innerhalb der Gesellschaft kämpfen“ (Bizzell 1994, 164). Damit lässt sich auch im zehnten Kapitel das zunächst widersprüchlich anmutende Verhalten des amerikanischen Wissenschaftlers Maxwell Tyler auf einer Expedition im brasilianischen Urwald am Tag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs im Gespräch mit Andreo und Enrique erklären, der frenetisch die faschistische Politik bejubelt, sieht er doch in ihr einzig noch die Möglichkeit das Kautschukgeschäft in Brasilien wieder anzukurbeln. Insofern kann man auch Baums Roman insgesamt als frühes literarisches Zeugnis verstehen, das gegen eine „koloniale Amnesie“ (Hall 2004, 199; vgl. auch Stauffer u. a. 2024) gerichtet ist.

Hinsichtlich der Exilproblematik in Baums literarischem Schaffen ist die Autorin eher als eine ‚Schriftstellerin im Exil denn eine über das Exil‘ (Sillars 2016, 163) bezeichnet worden. Zwar gibt es Romane wie Die Karriere der Doris Hart (1936), Marion Alive/Marion lebt (1942), Beyond this Journey/Schicksalsflug (1944/47) und Hotel Berlin ’43/Hier stand ein Hotel (1944/47), die explizite und typische Exilthemen wie z. B. Heimat, Flucht oder Alterität sowie darüber hinaus auch autobiografische Reflexionen umfassen, doch bestimmt sie das nicht ausschließlich. Die Entgegensetzung von ‚Heimat‘ und ‚Exil‘ wird vielmehr psychologisch gedeutet, indem es Baum darum gehe, so etwas wie eine ‚innere Heimat‘ zu schaffen, was – so Rose Sillars – ein ‚weibliches Konzept‘ sei (Sillars 2016, 170), um auch in der Fremde bestehen zu können. Sillars stellt zusammenfassend fest, dass Baums Romane Geschichten erzählen, in denen das Exil-Trauma dadurch gemildert werde, dass ihre Protagonist*innen – wie Baum selbst – in ihrem Exil nicht nur überleben, sondern auch Wohlstand genießen und in verschiedenen Hinsichten vom Zielland profitieren (vgl. Sillars 2016, 171). Auch wenn Sillars Kautschuk nicht erwähnt, so spielt die Exilthematik – über den erwähnten autobiografischen Bezug – in die Romankomposition hinein, so z. B. bei der Figur des deutschen Chemikers Dr. Hernried. Dieser hat Anfang der 1940er Jahre in Ludwigshafen bei I. G. Farben gearbeitet und an der Entwicklung des Kunstkautschuks mitgewirkt, ehe er sich einer antifaschistischen Widerstandsgruppe zuwendet und an Sabotageakten mitwirkt. Nachdem er von den Nazis geschnappt und Verhören unterzogen wird, gelingt ihm bei einem nächtlichen Bombenangriff die Flucht, und er schafft die Überfahrt in die USA, wo er sogar wieder als Chemiker an der Seite Jim Clarks an der Weiterentwicklung von Kunstkautschuk forschen kann. Und ihm, dem Exilanten und Außenseiter, der durchaus dankbar gegenüber seinem Exilland ist, bleibt es am Ende vorbehalten, den Optimismus, den die amerikanischen Chemiker nur zu gern bereit sind zu verbreiten, mit gesunder Skepsis, dabei seine persönlichen Erfahrungen verarbeitend, zu begegnen.

Baums Roman weist eine große thematische Vielfalt und Breite auf: Neben der Beschäftigung – im historischen Teil – mit Aspekten von Kolonialismus, Imperialismus und der ständig mitschwingenden Kapitalismuskritik (vgl. Capovilla 2000, 126), einer Kritik am weltumspannenden, globalen Charakter dieser Wirtschaftsordnung, rückt in den – damals zeitgenössischen – aktuellen Kapiteln die Auseinandersetzung einerseits mit dem Faschismus in Deutschland, andererseits mit antifaschistischen Aktionen in den Mittelpunkt; schließlich ziehen sich noch Überlegungen zum Zweiten Weltkrieg sowie zu dessen möglicher Beendigung durch den Text. Für Johann Holzner, der Baum ansonsten nur mit der Literaturwissenschaft wenig Gewinn bringenden Wertungsfragen begegnet, stellt Kautschuk sogar „unter allen Büchern des Exils de[n] bemerkenswertesten Versuch [dar], mit den Mitteln der Unterhaltungsliteratur das Thema ‚Widerstand und Friede‘ abzuhandeln.“ (Holzner 1995, 41)

In erster Linie allerdings gilt die Aufmerksamkeitsrichtung Baums der Entstehung, Verbreitung und (Weiter-)Entwicklung der Kautschukproduktion, womit sie – auf einem breiten, naturalistisch anmutenden Quellenstudium von naturwissenschaftlich-technischen wie politisch-zeitgeschichtlichen Darstellungen – eigene Interessenlagen weiterverfolgt und schließlich diesen außerordentlichen Roman vorlegen kann (vgl. Editors' Choice 1943). Und auch wenn Baum in ihren 15 Kapitel-Erzählungen einzelne Schicksale porträtiert, geht es ihr doch nur bedingt um das einzelne Subjekt, viel mehr um kollektive Prozesse. Es geht ihr darum zu zeigen, was eine auf Ausbeutung der Natur und auf die Produktion von Mehrwert ausgerichtete Wirtschaft sowohl mit den indigenen Bevölkerungen wie auch mit den Kolonisatoren anstellt. Im Blick auf die zeitgenössische Gegenwart, in der Baums Roman entstanden ist, hat Ursula Krechel einmal sehr grundsätzlich von der politischen Brisanz dieses Exiltextes gesprochen:

Kautschuk und der vom deutschen IG Farben Konzern entwickelte Gummiersatz Buna sind die historischen Täter und Schurken des Romans. Menschen sind Spielfiguren und Opfer – Opfer des wirtschaftspolitisch umkämpften Rohstoffs, der nach dem Fall von Pearl Harbor nur mehr begrenzt verfügbar ist. […] Der Roman handelt also von den wirtschaftlichen und industriellen Grundlagen des Zweiten Weltkriegs. Es gibt nur wenige Exil-Schriftsteller, die sich so weit vorwagen. (Krechel 2015, 128; vgl. außerdem Grimmig 2011, 120)

Werner Jung

Literatur

  • Bizzell 1994 - Patricia Bizzell: “Contact Zones” and English Studies. In: College English 56, 2, 1994, 163–169.
  • Capovilla 2000 - Andrea Capovilla: Kosmopolitisches Heimweh. Anregung zu einer neuen Lektüre Vicki Baums. In: Cosmopolitans in the Modern World. Studies on a Theme in German and Austrian Literary Culture. Hg. v. Suzanne Kirkbright. München 2000, 113–126.
  • Editors' Choice 1943 - Editor’s Choice: Villain Rubber [Rez.]. In: The Commonweal, 17.12.1943, 233f.
  • Grimmig 2011 - Martina Grimmig: Goldene Tropen. Die Koproduktion natürlicher Ressourcen und kultureller Differenz in Guayna. Bielefeld 2011.
  • Hall 2004 - Stuart Hall: Die Frage des Multikulturalismus. In: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hg. v. Juha Koivisto und Andreas Merkens. Übers. v. Kristin Carls u. a. Hamburg 2004, 188–227.
  • Holzner 1995 - Johann Holzner: Friedensbilder in der österreichischen Exilliteratur. Über Stefan Zweig, Vicki Baum und Theodor Kramer. In: Zagreber Germanistische Beiträge 4, 1995, 35–50.
  • Krechel 2015 - Ursula Krechel: Die Dirigentin des großen Bahnhofs: Vicki Baum. In: Dies.: Stark und leise. Pionierinnen. Salzburg und Wien 2015, 114–131.
  • Loster-Schneider 2002 - Gudrun Loster-Schneider: Exotisches, Vergangenes, Anderes? Nationalkulturelle Differenzerfahrungen in Vicki Baums Roman Kautschuk (1943/1945). In: Erfahrung nach dem Krieg. Autorinnen im Literaturbetrieb 1945–1950. BRD, DDR, Österreich, Schweiz. Hg. v. Christiane Caemmerer u. a. Frankfurt/Main u. a. 2002, 265–286.
  • Lützeler 2017 - Paul Michael Lützeler: Postkolonialer Blick. In: Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Hg. v. Dirk Göttsche u. a. Stuttgart 2017, 208f.
  • Pratt 1991 - Mary Louise Pratt: Arts of the Contact Zone. In: Profession, 1991, 33–40.
  • Sillars 2016 - Rose Sillars: Vicki Baum’s Exile Novels. In: Exile and Gender I. Literature and the Press. Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies. Hg. v. Charmian Brinson und Andrea Hammel. Leiden und Boston 2016, 161–171.
  • Stauffer u. a. 2024 - Isabelle Stauffer u. a. (Hg.): (Post-)Koloniale Welten. Umschreiben und Umkartieren hegemonialer Verhältnisse. Bielefeld 2024.