Ausbeutung bis heute
Wie aktuell tatsächlich heute noch Vicki Baums ‚Zeitroman‘ ist, belegt nicht zuletzt eine Reportage aus dem Jahr 2023, die vom Journalismfund Europe unterstützt worden ist und unter dem Titel Europas Gier nach Gummi über die Machenschaften europäischer Unternehmen berichtet – etwa dem französischen Rubbercam, das mehrheitlich einem Autohändler gehört –, die z. B. Kautschukplantagen in Kamerun anlegen und dabei maßgeblich für die Vertreibung indigener Völker verantwortlich sind. „Die Baka“, die landläufig und abwertend als ‚Pygmäen‘ bezeichnet werden, „wurden für den Anbau von Naturkautschuk vertrieben. Wo sie früher wohnten und jagten, steht heute die 450 Quadratkilometer große Sud-Cameroun Hévéa Plantage, kurz Sudcam genannt.“ (Bertrams u. a. 2023, 32) Für die Plantage wurden Land enteignet, Menschen umgesiedelt und große Flächen Regenwald abgeholzt. Das alles steht in schlechter jahrhundertelanger Tradition, die – auf dem Rücken der indigenen Bevölkerungen – die hemmungslose kapitalistische Ausbeutung des Globus, jetzt vor allem Afrikas, betreibt. In den Worten der beiden italienischen Soziologen Ferruccio Gambino und Devi Sacchetto, die das Doppelgesicht des europäischen Kapitals seit der Frühen Neuzeit beschrieben haben:
Während es in Europa einerseits die besonderen Vorteile der Einhegung, des Arbeitshauses und des Armenhauses ausnutzt, andererseits aber auch gezwungen ist, seinen eigenen Arbeitern hinterherzulaufen, agiert es auf den übrigen Kontinenten mit offener Grausamkeit und als Zwangsverhältnis, indem es einen guten Teil der Amerikas sowie weite Teile Asiens und Afrikas in eine riesige manufakturmäßige Plantage verwandelt, die entlang der Hierarchie von Sklaven, Schuldknechten und freien Arbeitern organisiert ist. (Gambino/Sacchetto 2009, 121)
Die Gründe dafür sind unbedingte Profitmaximierung sowie Fortschrittswahn und Konsumsucht der westlichen Lebensweise, was die Autor*innen der Gummi-Reportage schließlich in der kargen Formulierung zusammenfassen:
Weltweit werden jährlich inzwischen mehr als 14 Millionen Tonnen Kautschuk gezapft und zu Gummi verarbeitet. Davon gehen etwa acht Prozent in EU-Länder. Rund 40 000 verschiedene Industrieprodukte werden aus dem Latex gefertigt – beispielsweise Kondome, Dichtungen, OP-Handschuhe oder Sneakers. Der weitaus größte Teil des global verfügbaren Materials – etwa drei Viertel – landet jedoch in Reifen. Im Jahr 2020 allein produzierten europäische Hersteller 300 Millionen Auto- und 18 Millionen Lkw-Reifen aus dem Rohstoff. (Bertrams u. a. 2023, 32)
Die Hintergründe sind schon bei Baum minutiös beschrieben.
Werner Jung
Literatur
- Bertrams u. a. 2023 - Nathalie Bertrams u. a.: Europas Gier nach Gummi. In: Süddeutsche Zeitung, 8./9.7.2023, 32f.
- Gambino/Sacchetto 2009 - Ferruccio Gambino und Devi Sacchetto: Die Formen des Mahlstroms. Von den Plantagen zu den Fließbändern. In: Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts. Hg. v. Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth. Berlin und Hamburg 2009, 115–153.
