Raffael Gutmann (1922 [1911])
Publikationsgeschichte
Vor der ersten Buchdruckfassung von Raffael Gutmann in Vicki Baums Novellensammlung Die andern Tage von 1922 (S. 9–63) erschienen zwei weitere, unselbstständig publizierte Versionen dieser Erzählung bereits 1911 in der deutsch-jüdischen Kulturzeitschrift Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum (11, 1, 1911, Sp. 37–50; 11, 2, 1911, Sp. 131–144) sowie 1922 in der wöchentlich ausgelieferten Leipziger Illustrirten Zeitung (5.10.1922, S. 307f.; 19.10.1922, S. 353f.; 2.11.1922, S. 403–405).
Während sich der Text in den drei Folgen der Illustrirten Zeitung lediglich in Rechtschreibung, Gestaltung von Absätzen, Satz- und Anführungszeichen sowie dem Schluss (s. u.) von der Buchdruckversion im selben Jahr unterscheidet, weicht der elf Jahre früher in zwei Heften von Ost und West publizierte Text deutlich davon ab: Die kürzere Fassung von 1911 wird im Untertitel noch als ‚Erzählung‘ (statt ‚Novelle‘) ausgewiesen, der Vorname der Titelfigur schreibt sich hier ‚Rafael‘ (statt ‚Raffael‘), sein Mentor, der blinde Spieler des Harmoniums (statt der Orgel) im Tempel, heißt ‚Menkis‘ (statt ‚Manes‘), Rafaels Schulkamerad wird ‚Morizl‘ (statt ‚Moritz‘) Belft genannt, der Chordirigent Herr Pfau erhält den zusätzlichen Vornamen ‚Moriz‘. Als ein weiterer Schulkamerad Rafaels aus der Judengasse wird die Figur ‚Salomon Rosenblüh‘ eingesetzt, welche in der Szene des Gutmann’schen Vater-Sohn-Gesprächs Apfelreste aus dem Fenster wirft, was in den späteren Fassungen anonymisiert worden ist (‚ein verwischter schwarzer Kopf‘). Gegenüber den beiden späteren Fassungen fehlen hier zudem die Figuren des gleichfalls rothaarigen, jüngeren Bruders ‚David‘ bzw. ‚Davidele‘ Belft (welcher während der Hochzeit im Tempel Textpassagen übernimmt, die in der Fassung von 1911 nur auf Morizl konzentriert sind) sowie diejenige des kranken, ständig hustenden Bruder Raffaels, dessen Anwesenheit die düstere Atmosphäre des Trödelladens 1922 noch verstärkt.
Jiddische Sprache und charakteristische Ausdrücke, die in der Judengasse vorherrschen, werden in den beiden späteren Versionen entweder abgemildert oder ganz in Hochdeutsch umgewandelt (ebenso wie einige der 1911 noch häufiger vertretenen Austriazismen). Statt des 1922 nur von Corinna gesungenen deutschen Volkslieds vom Schwesterlein (1894 von Johannes Brahms als zweistimmiges Klavierlied bearbeitet), das zudem als intertextuelle Präfiguration des tödlichen Endes die späteren Fassungen bis zum Schluss leitmotivisch strukturiert, singen Menkis, Corinna und Rafael hier zu Beginn, vor ihrem Opernbesuch von Richard Wagners Meistersingern von Nürnberg (statt des Beethoven’schen Fidelio) gemeinsam ein russisches Volkslied („Im Wald, im tiefen dunkeln, / Da bin ich so allein …“; „Nun fliessen meine Tränen …“, Sp. 37f.). Darüber wird Rafael 1911 seine, „der blonden Christin“ Corinna (wie es hier zuvor dezidiert heißt, Sp. 41) gewidmeten Variationen verfassen. In seinen nächtlichen Erinnerungen an diese Zeit werden Bach und Fidelio genannt (statt Beethoven und Bachs Matthäus-Passion).
1911 folgt unmittelbar auf die Eingangsszene des Opernbesuchs in der Stadt die Schilderung der Hochzeit im Tempel (angelehnt an Wiens Hauptsynagoge im 1. Bezirk, den Stadttempel in der Seitenstettengasse, wo ab 1826 Salomon Sulzer, einer der Initiatoren der orgelbegleiteten Kantoral- und Chormusik, als Vorsänger tätig war [vgl. Geisz 2018, 26]) mit Rafaels stimmbruchbedingtem Versagen beim Gesangssolo und erst danach die Aussprache zwischen Vater und Sohn, was in den Versionen von 1922 umgestellt worden ist. Ebenso vertauscht sind 1922 die Sprecherpositionen im letzten Dialog, den Corinna und der blinde Musiker über das weitere Schicksal des titelgebenden Protagonisten führen. Die 1911 in Ost und West und 1922 in der Illustrirten Zeitung am Schluss erwähnten Bahnschienen und der herannahende Zug – was durch die Nähe zu Nordbahnhof und Fluss (d. i. die Donau) an das jüdische Viertel der Leopoldstadt (2. Wiener Gemeindebezirk) erinnert und den Tod der Titelfigur hier noch eindeutiger werden lässt – fehlen in der Buchdruckfassung der Novellensammlung von 1922.
Weitere Änderungen betreffen insbesondere die Formen der direkten bzw. indirekten Erzählweise, so bei der Kindheitsschilderung des Protagonisten zu Beginn, die in den Fassungen von 1922 in eine direkte Ich-Erzählung Raffaels geändert worden ist, sowie den Wechsel von epischem Präteritum zu dramatisierenderem Präsens bei der Schilderung der Hochzeit im Tempel oder der hier regelrecht Fieber erzeugenden Opern-Wirkung von Tristan und Isolde auf Raffael in den Versionen von 1922. Ausführlicher sind diese späteren Fassungen auch bei der (zudem ironisch gefärbteren) Darstellung der Hochzeit, bei den metaphorischen Bildern für Raffaels Gemütszustände nach dem Stimmbruch und vor allem bei der Schilderung der Judengasse und des elterlichen Trödelladens nach seinem Tristan-Erlebnis am Schluss. Ergänzt worden sind 1922 zudem die positive Erinnerung Raffaels an das christliche Gebet in der Schule und Corinnas Stigmatisierung von Raffaels Schwäche als jüdisches Charakteristikum im Gespräch mit Manes (‚So seid ihr …‘).
Ultraorthodoxe Juden aus Galizien auf dem Karmeliterplatz in Wien, Leopoldstadt, Pichler, 1915. Public domain via Wikimedia Commons.
Themen und Strukturen
Mit Raffael Gutmann schreibt Vicki Baum die Form der Ghettogeschichte aus dem 19. Jahrhundert fort (vgl. Glasenapp 1996), die nicht nur Informationen über die Lebensweisen und Traditionen vor allem osteuropäischer Juden vermittelte, sondern auch Kritik an den patriarchalischen Strukturen der Unterdrückung von Frauen und Kindern übte und Konflikte zwischen jüdischer und christlicher Erziehung, Partnerwahl, Kunst und Kultur thematisierte. Die Schreibweise des Namens der Titelfigur aus der ersten Fassung von 1911, der Ort des Trödelladens sowie die Blindheit des Musikers und seine Heirat mit einer Christin verweisen zudem intertextuell auf diese literarische Tradition, denn ‚Rafael‘ heißt in Herman Heijermans’ Drama Ghetto (1898; dt. 1903) der Sohn eines blinden Trödelhändlers, der durch seine Liebe zu einer Christin zum Außenseiter im Amsterdamer Judenviertel wird, sich allerdings der Forderung seiner Familie nach einer jüdischen Braut verweigert (vgl. Brenner 1997, 115, Anm. 16).
Eine weitere Ghettogeschichte Baums, Im alten Haus, erschien 1910 ebenfalls in Ost und West (10, 1, 1910, Sp. 15–32). Diese beiden frühen Texte stellen die ausführlichste literarische Beschäftigung der Autorin mit dem Judentum dar, denen sie im US-amerikanischen Exil schließlich die Filmskizze The life of Heinrich Heine zur Seite stellte, die mit den Erfahrungen des späteren Pariser Exilanten Heine in der Frankfurter Judengasse beginnt (AdK, Nr. 34, [Bl. 3–5]).
Die deutsch-jüdische Kulturzeitschrift Ost und West wollte zwischen 1901 und 1923 vor dem Hintergrund eines post-emanzipatorischen Antisemitismus und im Kontext der vom Zionismus inspirierten ‚Jüdischen Renaissance‘ (vgl. Kilcher 2016) vor allem den assimilierten westeuropäischen Juden Kulturleistungen und Sprache der osteuropäischen Juden im Sinne eines spezifisch jüdischen Selbstbewusstseins der Dissimilation vermitteln (vgl. Podewski 2014). Baum und ihre Eltern gehörten dagegen zum liberalen Judentum, wo jiddisches Sprechen als „Schande“ galt (Baum 2019, 105); Baums Großeltern waren noch aus den östlichen Gebieten des Habsburgerreichs eingewandert, die Großeltern väterlicherseits pflegten orthodoxe Traditionen und lebten schließlich in der Leopoldstadt, dem jüdischen Viertel Wiens (vgl. Nottelmann 2007, 15–20).
Raffael Gutmann enthält zunächst grundlegende Aspekte der Ghettogeschichte. Dazu zählen die Schilderung von religiösen Ritualen des Sabbat, der jüdischen Hochzeit, des Pessach- und des jüdischen Neujahrsfests sowie eine aus ‚deutscher‘ Bildung resultierende christliche Partnerwahl, die am Beispiel des blinden Musikers zur Entlassung aus dem reformierten Tempel führt (was in den Fassungen von 1922 explizit durch die Heirat ‚einer Christin‘ begründet wird). Am Beispiel Raffaels wird zudem der „Konflikt des jüdischen Kunstgenies“ (Ober 2001, 108) gezeigt, das mit der konservativen jüdischen Tradition brechen müsste, um sich in seiner Kunst (hier der Musik) ausbilden zu können. Im Fall von Baums Titelfigur kann diese sich den tradierten väterlichen Anweisungen, welche schon den einst Geige spielenden Vater betrafen, nicht widersetzen, sie auf Dauer aber auch nicht befolgen und scheitert daran. Dies wird in den verschiedenen Fassungen des Textes unterschiedlich akzentuiert – u. a. wohl aufgrund der divers (jüdisch bzw. nichtjüdisch) strukturierten Leserschaft von Ost und West bzw. der Leipziger Illustrirten Zeitung und der 1922 in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienenen Novellensammlung.
Gleichzeitig wird der durch den jeweiligen Habitus, die Sprache, Körperhaltung, Kleidung und Gerüche, sowie durch die unterschiedlichen Räume von Judengasse und Stadt demonstrierte Gegensatz zwischen orthodox-jüdisch geprägtem und weltlich-‚modernem‘ Lebensstil auch wieder durchkreuzt, wie Madleen Podewski (2014, 33–52) gezeigt hat: Musik (wenngleich unterschiedlicher Ausrichtung) spielt in beiden Sphären eine große Rolle, Licht und Helligkeit sind nicht nur charakteristisch für die Stadt (wo zu Beginn der Erzählung in der Dämmerung musiziert wird und beim Opernbesuch die Lichter verlöschen) ebenso wenig wie Dunkelheit ausschließlich das jüdische Viertel prägt. Der buchstäbliche wie metaphorische Grenzgänger Raffael verendet auf dem Schneefeld schließlich im Niemandsland, an einem „menschenleeren Nicht-Ort“ (Podewski 2014, 37).
Während andere Figuren wie Moritz Belft oder der blinde Manes den Wechsel zwischen Stadt und Judengasse durchaus bewältigen, spielen für Raffaels Scheitern daher noch andere Gründe eine Rolle, die nicht nur aus seiner jüdischen Herkunft resultieren und insofern über die Konventionen der Ghettogeschichte hinausweisen. Ausschlaggebend für Raffaels Aufgabe der Musik ist zum einen der Stimmbruch des 15-Jährigen, worauf schon zeitgenössische Rezensionen hinweisen (vgl. Tuschak 1923; Wiegler 1923), die tödliche Zuspitzung des Konflikts geht also auch mit der generell schwierigen Phase der Adoleszenz einher. Zum anderen wird mit Raffael ein nahezu „queer[er]“ Künstler- und Geschlechtertypus „as a fan of a cross-dressing opera (Beethoven’s Fidelio)“ entworfen (Brenner 1997, 105, 111), der in seiner Wagner-Begeisterung, seiner Zerissenheit, Übersensibilität, Emotionalität und Schwäche Vorstellungen der Décadence-Bewegung der Wiener Moderne um 1900 verkörpert.
Das wird auf formaler Ebene auch durch die Erzählweise unterstützt, die vor allem in der Schlusspassage in den Modus der Introspektion wechselt. Besonders deutlich akzentuiert das die Fassung der Illustrirten Zeitung, die hier weitgehend auf den Einsatz von Anführungszeichen bei der Wiedergabe von Raffaels innerem Dialog mit seiner Seele verzichtet. Daher heben gerade zeitgenössische Rezensionen dieser Zeitungsfassung die ‚psychologisch sehr feine‘ Gestaltung von Baums Novelle hervor (vgl. Anonym 1922a; Anonym 1922b). Gleichwohl ruft die Feminisierung des Protagonisten auch wieder jüdische Stereotypen auf, wie sie etwa in Geschlecht und Charakter (1903) von Otto Weininger vertreten worden sind, den Baum in ihren Erinnerungen erwähnt (vgl. Baum 2019, 237; Brenner 1997, 108, 111). Darüber hinaus wird in den Fassungen von 1922 (s. Publikationsgeschichte) Raffaels Schwäche aus Sicht der Christin Corinna durchaus als jüdisch markierte Eigenschaft thematisiert (vgl. demgegenüber Podewski 2014, 45, die sich allerdings ausschließlich auf die Version von 1911 bezieht), und auch die Dunkelheit, in der die Sängerin die beiden jüdischen Musiker zu Beginn antrifft, ließe sich hier durch Corinnas zusätzlichen Kommentar 1922 (‚bei euch muß es ein bißchen dunkel sein, das ist hübsch und richtig‘) in diese Richtung deuten.
Insgesamt vermittelt der Text in allen drei Fassungen die topische Konfrontation von Kunst und Judentum über eine „Krisenfigur ohne festen Identitätskern“ (Podewski 2014, 47) indes ähnlich ‚polyfon‘ wie die intermedial dazu zitierten Musikstücke und damit weitaus uneindeutiger und vielschichtiger als für das Genre der Ghettoliteratur sonst üblich. Dadurch widerspricht Baums pessimistische Erzählung einer verhinderten Entwicklung und Bildung ihres Protagonisten sowohl der (besonders im Zeitschriftenkontext von Ost und West angestrebten) Aufwertung des osteuropäischen Judentums (vgl. Podewski 2014, 82f.) wie auch der Kritik an dessen traditioneller Lebensweise aus liberal-assimilierter oder christlicher Perspektive und nimmt stattdessen Misch- und Übergangszonen zwischen jüdischer und nichtjüdischer Kultur in den Blick – was den Text nicht zuletzt auch kompatibel für die unterschiedlich ausgerichteten Publikationsmedien machte, in denen er erschienen ist.
Julia Bertschik
Literatur
- Anonym 1922a - Anonym: Büchertisch. In: Vorarlberger Tagblatt, 10.10.1922, 4.
- Anonym 1922b - Anonym: Nachrichten aus Oberösterreich – Salzburg und den Nachbarländern. In: (Linzer) Tages-Post, 24.10.1922, 5.
- Baum 2019 - Vicki Baum: Es war alles ganz anders. Erinnerungen [1962]. Köln 22019.
- Brenner 1997 - David A. Brenner: Neglected “Women’s” Texts and Contexts: Vicki Baum’s Jewish Ghetto Stories. In: Women in German Yearbook 13, 1997, 100–121.
- Geisz 2018 - Martin Geisz: Musik für Orgel in der Synagoge. In: Ars Organi 66, 1, 2018, 26–29.
- Glasenapp 1996 - Gabriele von Glasenapp: Aus der Judengasse. Zur Entstehung und Ausprägung deutschsprachiger Ghettoliteratur im 19. Jahrhundert. Tübingen 1996.
- Kilcher 2016 - Andreas B. Kilcher: Jüdische Renaissance und Kulturzionismus. In: Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur. Hg. v. Hans Otto Horch. Berlin und Boston 2016, 99–121.
- Nottelmann 2007 - Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie. Köln 2007.
- Ober 2001 - Kenneth H. Ober: Die Ghettogeschichte. Entstehung und Entwicklung einer Gattung. Übers. v. Helmut Berthold und Jürgen Stenzel, unter Mitarbeit v. Lore Schönberg. Göttingen 2001.
- Podewski 2014 - Madleen Podewski: Komplexe Medienordnungen. Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift „Ost und West“ (1901–1923). Bielefeld 2014.
- Tuschak 1923 - Helene Tuschak: Die andern Tage [Rez.]. In: Neues Wiener Abendblatt, 20.3.1923, 4.
- Wiegler 1923 - Paul Wiegler: Zehn Bücher des Monats. In: Prager Tagblatt, 28.1.1923, [20].


