Hunger (1922)
Publikationsgeschichte
Der erste Buchdruck von Hunger erfolgte in Vicki Baums Novellensammlung Die andern Tage von 1922 (S. 149–206). Weitere Buchdrucke folgten in Baums Novellensammlung Die andern Tage von 1931 (S. 75–122), als Abschlusserzählung in ihrer Novellensammlung Die Strandwache (Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1953, S. 261–310) sowie als Auftakterzählung in ihrem postum erschienenen Erzählungsband Der Weihnachtskarpfen (Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993, S. 9–52 und 2021, S. 7–58).
Unter dem Titel Fräulein Gabrilowskys großes Glück erschien der Text bereits im Sommer 1922 in zwei Folgen in den Monatsblättern Die Bergstadt (10, 10, Juli 1922, S. 324–336; 10, 11, August 1922, S. 407–416), die zwischen 1912 und 1931 vom schlesischen Schriftsteller Paul Keller herausgegeben wurden.
Alle Abdrucke unterscheiden sich, neben wenigen bedeutungsvariierenden Wortabweichungen der Zeitschriftenfassung, lediglich in Rechtschreibung, Interpunktion und Absatzgestaltung.
Themen und Strukturen
Kurz vor der Hyperinflation von 1923 mit ihren schon zuvor sich abzeichnenden wirtschaftlichen Folgen der Verarmung weiter Teile der deutschen Bevölkerung erscheint Vicki Baums „vielleicht beste[]“ Erzählung Hunger (so Nottelmann 2007, 48). Deren endgültiger, sachlicherer Titel ist zugleich eine Referenz an Knut Hamsuns gleichnamigen Debütroman (norw. Sult) von 1890. Hamsun beschreibt den körperlichen und seelischen Verfall eines erfolglosen, dem Wahnsinn nahen Schriftstellers in der norwegischen Hauptstadt Kristiania, dem heutigen Oslo, der sich nur notdürftig als Gelegenheitsjournalist über Wasser halten kann, hungernd und obdachlos durch die Stadt streicht, seine prekäre Situation aus sozialer Scham zu verbergen sucht, sie dadurch aber nur verschlimmert.
Wie Baums weibliches Pendant in der deutschen Hauptstadt Berlin nach dem Ersten Weltkrieg, der aus Oberschlesien stammenden, alleinstehenden und künstlerisch ambitionierten Klavierlehrerin Gabriele Gabrilowsky, ist Hamsuns namenloser Protagonist ein begabter Erzähler. Er präsentiert anderen Leuten ausgedachte Geschichten und erfindet für sich so nicht zuletzt, wie Baums angeblich adlige Klaviervirtuosin Gabriele von Gabrilow aus dem vorrevolutionären Sankt Petersburg, eine eigene, interessantere Biografie unter anderem Namen.
Beide Texte beruhen auf realen Hungererfahrungen ihrer Autor*innen: Hamsun hungerte in der Zeit vor und während der Niederschrift seines Debüts, Baum hat 1917, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, in Kiel „Hungersnot und Elend“ erlebt (Baum 2019, 141). Während Hamsuns naturalistische Armutsschilderung aus einer mitunter sarkastischen Ich-Perspektive bereits mit Formen des Bewusstseinsstroms experimentiert, kombiniert Baum ihre sozialkritische Schilderung weiblicher Verelendung, physischen wie emotionalen Hungers mit eigenwillig ausgestellten, die Leserschaft direkt ansprechenden auktorialen Erzählkommentaren zwischen Mitgefühl und Ironie (‚ihr Lieben‘, ‚lacht nicht‘, ‚Nehmt zum Beispiel dies an‘, ‚Nun aber etwas anderes‘, ‚Eine schlimme Geschichte‘).
So wird das Geschichtenerzählen bei ihr autopoietisch in Szene gesetzt, ist aber auch auf weiteren Ebenen des Textes ein (selbst)kritisches Thema: etwa in den „Memoiren der Freiin Gabriele von Gabrilow“, verfasst im unterhaltungsliterarischen Stil des 18./19. Jahrhunderts („Am gleichen Abend lernte ich den Großfürsten F. kennen“, 123) wie, ebenso stereotyp, im trivialliterarischen Genre des frühen Arztromans („Im Winter 18.. lernte ich den Chirurgen K. anläßlich einer schweren Operation kennen“, 138) oder in den ‚geflunkerten‘ Fantasien der Protagonistin vom „erborgten“ (Tuschak 1923) bürgerlichen Familienglück mit Mann und Kind. „Thalia“, in den Buchdrucken der Name des vegetarischen Restaurants, wo Fräulein Gabrilowsky in guten Zeiten zu speisen pflegt, spielt zudem auf die griechische Muse der komisch unterhaltenden (Theater-)Dichtung an, während sich der Restaurantname „Thalysia“ in der Zeitschriftenfassung noch offensichtlicher auf die gleichnamige, vom frühen Lebensreformer Eduard Baltzer (1814–1887) gegründete Vegetarierzeitschrift bezog. Und auch in den umgangssprachlich-berlinischen Rede-‚Anfällen‘ der proletarischen Zimmerwirtin Frau Kreitlein, in denen diese, angelehnt an den naturalistischen Sekundenstil, minutiös und atemlos von Gehörtem (‚sagt mein Mann‘) und Erlebtem aus ihrem (Familien-)Umfeld berichtet, wird der Vorgang des Erzählens transparent gemacht.
Ganz im Sinne der Freud’schen Psychoanalyse wird der Narration dabei eine heilende Wirkung attestiert: Bewirkt der Redeschwall Frau Kreitleins schon eine kurzfristige Alltagsentlastung, der eine längere Redepause folgt, so wird das Memoirenschreiben Gabriele Gabrilowskys explizit als psychotherapeutische Maßnahme „symbolische[r] Selbsterschaffung“ (Rabelhofer 2013, 355) benannt, deren Abbruch ihren neurotischen Zustand verschlimmert („Es war nun so, daß alle Sätze, die vorher in den Memoiren ein Unterkommen gefunden hatten, sich in ihrem Hirn aufstauten, sich herumtrieben und Hitze ausstrahlten“, 143).
Schon „[s]eit ihren Anfängen ist ‚Erzählen‘ für die Psychoanalyse die zentrale Handlungskategorie“, so etwa als „Redekur“ bei der Behandlung sogenannter Hysterikerinnen (Rabelhofer 2013, 343). Zu ihnen zählt Baums Doktor Köbeling ja auch seine lediglich zu eigenen Experimentierzwecken von ihm beeinflusste, da „der Suggestion besonders zugänglich[e]“ (131), liebeshungrige Patientin Gabrilowsky. Während dies bei ihr in einem psychischen Zusammenbruch endet, eröffnet sich ihm dagegen eine Karriere in einer der damals größten psychiatrischen Kliniken Europas, dem „Irrenhaus bei Elberfeld“ (146) – eine Anspielung auf die seit 1826 bestehende Departemental-Irrenanstalt zu Düsseldorf, die 1912 als Anstalt für ‚unheilbar Geisteskranke‘ geschlossen und den Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten zugeführt wurde. Damit gelingt Baum eine hellsichtige genderkritische Einschätzung psychoanalytischer Arzt-Patientinnen-Verhältnisse der damaligen Zeit.
Gleichzeitig folgt die Dramaturgie von Baums Erzählung selbst einem medizinischen Prinzip, dem von der Protagonistin zu Beginn prognostizierten Krankheitsverlauf einer Arsenvergiftung vom rauschhaften, vermeintlichen ‚Aufblühen‘ bis zu Verfall und Absturz. Das auch durch die Musikanspielungen auf Frédéric Chopin und Pjotr Iljitsch Tschaikowski unterstützte, romantische „Schnörkelwerk um die[] unerträgliche, armselige“ (115) Wirklichkeit der Protagonistin erscheint dabei ebenso lebensnotwendig wie der modische „Aufputz“ (124), das Zierwerk aus Federn und Schleifchen, um die schadhaften Stellen ihrer Garderobe zu kaschieren.
Vor der Pflege des an Scharlach erkrankten, wohlgenährten Kindes ihrer hochschwangeren Vermieterin besteht diese Wirklichkeit für Fräulein Gabrilowsky aus den wiederholt demütigenden Bemühungen um ihre mit Kuchen und Schmalz gut versorgten tyrannischen Klavierschüler*innen für einen „Hungerlohn“ (Freud 1923), der kaum zu ihrer persönlichen Erhaltung mit billigem vegetarischem Essen und den vom eigenen Haustier verschmähten Küchenabfällen reicht.
Durch die wie nebenbei eingeblendeten zeithistorischen Hinweise auf Nebenkriegsschauplätze des Ersten Weltkriegs („in den Kolonien gefallen“, 113f.), populäre Soldatenlieder („Stolzenfels am Rhein“, „Niederländisches Dankgebet“), die Russische Revolution und beängstigende „Lustmorde“ (119) – eine Anspielung auf in Berlin und Hannover agierende Serienmörder wie Carl Großmann (1863–1922), Friedrich Schumann (1893–1921) oder Fritz Haarmann (1879–1925) – handelt es sich zudem um eine zutiefst instabile gesellschaftspolitische Realität, in der weibliche Berufstätigkeit in prekären Beschäftigungsverhältnissen keinerlei Aussicht auf ein selbstbestimmtes Leben bietet.
Vor diesem Hintergrund wird der unscheinbar schlichte Typ des ‚Fräulein‘, wie ihn Arthur Schnitzler und Ödön von Horváth erst etwas später populär machen sollten, schon hier als „unterprivilegierte[s] weibliche[s] Subjekt […] zu einer literaturfähigen […] Heldin“ (so Fliedl 2005, 222, über Schnitzlers Angestelltenroman Therese. Chronik eines Frauenlebens von 1928, der sich in vielfacher Hinsicht für einen Vergleich mit Baums Hunger-Erzählung anbieten würde).
Rezeption
Schon die zeitgenössischen Rezensionen beurteilten Baums „vorzügliche psychologische Studie“ (N. 1953) daher durchweg positiv als eine „quälend echt“ (Tuschak 1923) dargestellte „Hunger-Tragödie“ (Wiegler 1923) eines „ohne Aufhebens heroischen Lebens“ (Sturm 1923).
Julia Bertschik
Literatur
- Baum 2019 - Vicki Baum: Es war alles ganz anders. Erinnerungen [1962]. Köln 22019.
- Fliedl 2005 - Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler. Stuttgart 2005.
- Freud 1923 - Margrit Freud: Zwei Bücher von Frauen. In: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgen-Ausgabe, 22.7.1923, 4. Beiblatt.
- N. 1953 - N.: Vicki Baum: „Die Strandwache“. In: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe, 10.12.1953, [Bl. 7].
- Nottelmann 2007 - Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie. Köln 2007.
- Rabelhofer 2013 - Bettina Rabelhofer: Erzählen in der Psychoanalyse. In: Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Hg. v. Alexandra Strohmaier. Bielefeld 2013, 343–358.
- Sturm 1923 - Hans Sturm: Die andern Tage [Rez.]. In: Das literarische Echo 25, 9/10, 1923, Sp. 548.
- Tuschak 1923 - Helene Tuschak: Die andern Tage [Rez.]. In: Neues Wiener Abendblatt, 20.3.1923, 4.
- Wiegler 1923 - Paul Wiegler: Zehn Bücher des Monats. In: Prager Tagblatt, 28.1.1923, [20].
