Das Wunder (1922)
Publikationsgeschichte
Der Text ist 1922 in Vicki Baums Novellensammlung Die andern Tage (S. 207–254) erschienen. Zur Entstehung und zu weiteren Fassungen oder Publikationen ist bislang nichts bekannt.
Themen und Strukturen
In der zeitgenössischen Rezeption der Novellensammlung Vicki Baums von 1922 wird auch auf ihre Erzählung Das Wunder eingegangen. So spricht Paul Wiegler im Prager Tagblatt (28.1.1923) durchaus positiv von einer „Nixengeschichte mit der Seele eines Märchens von Andersen“. Deutlich kritischer fällt die Bewertung von Helene Tuschak im Neuen Wiener Abendblatt (20.3.1923) aus. Sie stört sich gerade an Baums Wendung zum Märchenhaften, welche dem Talent dieser Autorin nicht adäquat sei:
An ihrer großen Begabung erweist es sich wieder, daß Märchenerzählen nicht Sache der Wissenden ist. Es fordert nicht den Geist des Schriftstellers, sondern die kindliche Einfalt des Dichters. Und Vicki Baum ist eine Wissende des Lebens und der Seele – ein hoher Vorzug, dem es nichts anhaben kann, wenn er auch ein kleiner Fehler ist. (Tuschak 1923)
Beide Rezensionen beziehen sich damit aber nur auf einen Pol der Erzählung, den schon im Titel anvisierten Aspekt des Märchenhaft-Wunderbaren, bzw. bringen diesen gegen die an Baum und den anderen Erzählungen ihrer Sammlung geschätzte, psychologisch detaillierte, „absolute[] Realität“ (Tuschak 1923) in Stellung.
Dass sich ein solch strikter Antagonismus aus Realitätsbezogenheit, Psychologie und Unwirklich-Übersinnlichem für die 1920er Jahre indes nicht halten lässt, macht, wenngleich ungewollt, Tuschaks Verweis auf die „telepathischen Möglichkeiten“ deutlich, mit denen Baum hier spiele (was sich wohl auf die Verbindung der Nixenfigur zur Natur und zur Toten im See bezieht). Denn die Welle der Begeisterung für paranormale Phänomene, wie spiritistische Sitzungen, bei denen ein menschliches Medium Kontakt mit dem Jenseits aufzunehmen versucht, telekinetische Erscheinungen oder okkulte Praktiken, die „in den Romanen der 1920er Jahre omnipräsent [sind]“ (Polt-Heinzl 2014, 185), wurde gerade durch die nur schwer fassbare, da drahtlos unsichtbar bleibende Funktionsweise der neuen Kommunikationsmedien Telegraf, Telefon und Radio mit ihrer Dislozierung von Sender und Empfänger reaktiviert.
Wie fließend die Grenzen zwischen einer modernen Technik auf der Höhe der zeitgenössischen Realität, parapsychologischer Gedankenübertragung und Psychoanalyse dabei geworden sind, zeigt auch Sigmund Freuds Reaktion in seinem 1922 publizierten Vortrag Traum und Telepathie: „[…] die Psychoanalyse [kann] das Studium der Telepathie fördern, indem sie mit Hilfe ihrer Deutungen manche Unbegreiflichkeiten der telepathischen Phänomene unserem Verständnis näher bringt […]“ (Freud 1922, 22).
Tuschak und Wiegler verfehlen so zudem den für viele Texte Baums typischen Charakter der Synthese. Denn die im österreichisch-süddeutschen Raum zwischen 1900 und den 1920er Jahren angesiedelte Nixen-Erzählung Das Wunder stellt auch stilistisch eine bereits an Amerikas Unterhaltungsindustrie orientierte, neusachliche Vermarktung ihrer außergewöhnlichen Protagonistin ebenso kritisch aus wie die tradierte Sensationslust des Zirkus und Wiener Klischees der Jahrhundertwende, etwa den durch Arthur Schnitzler popularisierten Vorstadt-Typus des ‚süßen Mädels‘ oder den „übergemütlichen Heimatkitsch“ und die „konfektionelle Dudelfolklore“ (Klotz 1991, 603, 572) von Alt-Wiener Operettenhits aus Heinrich Reinhardts Operette Das süße Mädel (1901) und Edmund Eyslers Bruder Straubinger (1903, „Küssen ist keine Sünd’“).
Dies wird darüber hinaus kombiniert mit verschiedenen, z. T. ebenfalls bereits zu Reklamezwecken genutzten Mythen und Märchen (einem der bevorzugten Lesestoffe der Autorin; vgl. Baum 2019, 555), vornehmlich von Wasserfrauen und weiblichen Wasserleichen. Die gattungs-, medien- und länderübergreifenden Allusionen und Verflechtungen rufen hier nicht nur Hans Christian Andersens Kunstmärchen Die kleine Meerjungfrau (Den lille Havfrue 1837) auf, sondern reichen u. a. von der griechischen Meeresnymphe Thetis (‚Silberfüßchen‘), der mittelalterlichen Sagengestalt der Melusine, ihrem slawischen Pendant der Rusalka (‚Nixe Ringelhaar‘), Paracelsus’ Elementargeist der Undine und deren romantischer Märchenadaption durch Friedrich de la Motte Fouqué, über die vor allem durch Heinrich Heines Gedicht bekannt gewordene Rheinnixe Loreley bis zu den ‚schönen‘, Weiblichkeit mit Tod überblendenden Wasserleichen Ophelia aus William Shakespeares Drama Hamlet (1601/02) und der nach 1900 populär werdenden ‚Unbekannten aus der Seine‘ (‚L’Inconnue de la Seine‘).
Sehnsucht und Fremdheit des Weiblichen in einer patriarchalisch geprägten Kultur sowie die Umkehrung des Beseelungsmotivs der Undine-Gestalt zur Anklage einer seelen- und herzlosen, kunstlos-‚gewöhnlichen‘ sowie burschenschaftlich verankerten (Männer-)Welt namens Heinz weisen zudem auf Jean Giraudoux’ Ondine (1939) und Ingeborg Bachmanns Undine geht (1961) voraus, deren männlicher Protagonist einen ebensolchen Allerweltsnamen, nämlich Hans, trägt.
In ihrer exzessiven Intertextualität und -medialität, die keine „Einflußangst“ (Bloom 1995) zu kennen scheint, etabliert Baums Text daher gerade eine ‚wissende‘, d. h. selbstreflexive, autopoietische Form moderner Fantastik, die das Wunderbare nicht mehr ausschließlich mittels seiner direkten Evokation erzeugt, sondern in der das Unwirkliche „in der Wiederholung […], im intertextuellen Akt selbst provoziert erscheint“ (Brittnacher/May 2013, 191) – so, wie Michel Foucault dies, noch allein auf die Literatur bezogen, am Beispiel Gustave Flauberts beschrieben hat:
Das Chimärische entsteht jetzt auf der schwarzen und weißen Oberfläche der gedruckten Schriftzeichen, aus dem geschlossenen staubigen Band, […] man schöpft [das Phantastische] aus der Genauigkeit des Wissens; […]. Das Imaginäre konstituiert sich nicht mehr im Gegensatz zum Realen, um es abzuleugnen oder zu kompensieren […]. Es ist ein Bibliotheksphänomen. (Foucault 1993, 160)
Literarhistorisch lässt sich Baums Nixen-Erzählung Das Wunder zwischen den zeitgenössischen europäischen Avantgarden ansiedeln, den vorgängigen Parabeln des Symbolismus über die Abgrenzung von (Alltags-)Leben und (künstlerischer) Imagination, wie etwa in Heinrich Manns titelverwandter und in seiner Binnenerzählung gleichfalls an einem See spielender Novelle Das Wunderbare (1897), sowie den auf die rein assoziativen Traumwelten des Surrealismus vorausweisenden Texten, wie Franz Hellens’ Mélusine (1920).
Dabei vertritt Baums Erzählung die vermittelnde Position eines der Neuen Sachlichkeit verwandten Magischen Realismus (vgl. Krappmann 2013). Dessen schon in der Wortverbindung liegendes Oxymoron realer und irrealer Elemente betont Das Wunder in zweifacher Weise: durch die Doppeldeutigkeit des Titels (Märchenhaft-Wunderbares und Wunder der Reklame) sowie durch die Zweiteilung in Rahmen- und Binnenerzählung. Überwunden wird diese durch die natur- und kunstaffine Figur des ebenfalls nicht der körperlichen Norm entsprechenden Außenseiters Lavendel, einer menschlich-männlichen Spiegelfigur der Protagonistin und Erzähler der Geschichte, wie sich am Ende herausstellt.
Der Schluss insistiert zudem auf der gleichnishaften ‚Wahrheit‘ der Fiktion im Sinne literarischer Beglaubigungsformeln eines ‚Po(i)etischen Realismus‘, wie er sich schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat (vgl. Korten 2009, 69f.). Das Aufeinandertreffen ‚poetischer‘ und ‚realistischer‘ Aspekte sorgt in Baums tragisch endendem Text durchaus auch für komische Momente. Dies zeigt vor allem die erste Gesprächsszene zwischen der namenlosen bzw. mit kulturgeschichtlich verankerten Fantasienamen der Männer überfrachteten Nixenfigur und ihrem zukünftigen Manager mit dem amerikanisch klingenden Namen Bratt: resultiert das permanente aneinander Vorbeireden der beiden doch aus der Konfrontation ihrer surrealen Existenz mit seinem sachlichen, durch Anglizismen (‚professional‘, ‚Bluff‘, ‚well‘) charakterisierten Geschäftssinn.
Julia Bertschik
Literatur
- Baum 2019 - Vicki Baum: Es war alles ganz anders. Erinnerungen [1962]. Köln 22019.
- Bloom 1995 - Harold Bloom: Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung [1973]. Übers. v. Angelika Schweikhart. Basel und Frankfurt/Main 1995.
- Brittnacher/May 2013 - Hans Richard Brittnacher und Markus May: Phantastik-Theorien. In: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. dens. Stuttgart und Weimar 2013, 189–197.
- Foucault 1993 - Michel Foucault: Un „fantastique“ de bibliothèque [1964]. Nachwort zu Gustave Flauberts ‚Die Versuchung des heiligen Antonius‘. Übers. v. Anneliese Botond. In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt/Main 1993, 157–177.
- Freud 1922 - Sigm[und] Freud: Traum und Telepathie. (Vortrag in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung). In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften VIII, 1922, 1–22.
- Klotz 1991 - Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. München und Zürich 1991.
- Korten 2009 - Lars Korten: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre 1848–1888. Stifter, Keller, Meyer, Storm. Tübingen 2009.
- Krappmann 2013 - Jörg Krappmann: Magischer Realismus. In: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Hans Richard Brittnacher und Markus May. Stuttgart und Weimar 2013, 529–537.
- Polt-Heinzl 2014 - Evelyne Polt-Heinzl: Medien und Medien. In: Julia Bertschik u. a.: 1928. Ein Jahr wird besichtigt. Wien 2014, 185–187.
- Tuschak 1923 - Helene Tuschak: Die andern Tage [Rez.]. In: Neues Wiener Abendblatt, 20.3.1923, 4.
- Wiegler 1923 - Paul Wiegler: Zehn Bücher des Monats. In: Prager Tagblatt, 28.1.1923, [20].


