Die andern Tage. Novellen (1922/31)

Die andern Tage. Novellen (1922/31)

Vicki Baums Novellensammlung Die andern Tage, um deren Neuauflage die Autorin sich zeitlebens bemühte, da sie sie zu ihren besten Büchern zählte, erschien 1922 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart, Berlin und Leipzig (gewidmet Baums Förderer Thomas Mann) sowie in leicht veränderter Zusammenstellung 1931 im Berliner Ullstein Verlag.

Den Titel Die andern Tage entnahm Baum Maurice Maeterlincks symbolistischem Gedicht Vous avez allumé les lampes (1891 erstmals unter dem deutschsprachigen Titel Lied in der Literaturzeitschrift La Conque erschienen) und verwandte ihn leitmotivisch in der Erzählung Das Joch, die Baums Novellenband von 1931 einleitet.

Die acht Novellen der beiden Ausgaben von 1922/31 präsentieren die Themen-, Stil- und Genrevielfalt aus Baums Frühwerk und ihren Produktionen der 1920er und frühen 1930er Jahre, welche bis in ihr Spätwerk im US-amerikanischen Exil weiterwirkte: von der jüdischen Ghettogeschichte des 19. Jahrhunderts (Raffael Gutmann) über die Dekadenzliteratur der Jahrhundertwende (Der letzte Tag) und den (österreichischen) Alpinismusdiskurs (Das Joch), die Warenhausnovelle im Übergang vom Naturalismus zur Neuen Sachlichkeit (Jape im Warenhaus) bis zur magisch-realistischen Adaption des Nixenthemas (Das Wunder) und der legendenhaft-historischen Erzählung im mittelalterlichen Gauklermilieu (Der Sittich).

Die Texte thematisieren Künstlerfiguren, häufig aus dem der Autorin besonders vertrauten Bereich der Musik, religiöse und gesellschaftliche Außenseiter, Armuts- und Geschlechterschicksale ebenso wie Umwelt-, Tier- und (modische) Objektaspekte. Dabei werden häufig das Erzählen, Literatur, Kunst und Musik in ihrer Auswirkung auf die Lebenswirklichkeit der Figuren (selbst)kritisch reflektiert, indem die ästhetizistische Opposition von Kunst und Leben sowohl aufgenommen als auch durchkreuzt wird. Das breit gefächerte Spektrum reicht von den so hervorgerufenen, überhöhten Lebens- und Liebeserwartungen, dem Ungenügen und dem Zerbrechen an der Alltagsrealität mit ihren minutiös geschilderten (Haushalts-)Routinen (Der Weg) und prekären Arbeitsverhältnissen bis zur psychotherapeutischen Wirkungsmacht der Narration (Hunger).

Entstehung und Publikationsgeschichte

Aktennotiz zum Vertrag "Die andern Tage" vom 02.04.1931 von [Emil] Herz, UBV.

Vicki Baums Novellensammlung Die andern Tage erschien 1922 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart, Berlin und Leipzig sowie in leicht veränderter Zusammenstellung 1931 im Berliner Ullstein Verlag – hier sowohl als letzter Band im Rahmen der aus acht Werken Baums bestehenden Ullstein-Ausgabe „Romane des Herzens“ wie, auf besonderen Wunsch der Autorin, als preiswerte Einzelausgabe, geplant für das Weihnachtsgeschäft (vgl. Aktennotiz zum Vertrag vom 2.4.1931 von [Emil] Herz, UBV). Die Novellenausgabe von 1922 enthält die Texte Raffael Gutmann, Das Joch, Hunger, Das Wunder, Der letzte Tag und ist „Thomas Mann / in Verehrung zugeeignet“. Die Ausgabe von 1931 enthält die Texte Das Joch, Hunger, Der letzte Tag, Der Weg, Jape im Warenhaus und Der Sittich. Hier ist nur mehr die erste Erzählung Das Joch Thomas Mann gewidmet, die letzte Erzählung Der Sittich hingegen Wilhelm Furtwängler „zum Dank / für eine Haydn-Symphonie“.

Mit Ausnahme von Das Wunder und Der Sittich sind alle Texte, z. T. unter anderen Titeln, zuvor bereits in Zeitungen und Zeitschriften oder auch als Einzelpublikationen veröffentlicht worden, von Jape im Warenhaus existiert zudem ein Typoskript mit dem Titel Untergang in Baums Nachlass (zu detaillierteren Angaben vgl. die Kommentare der einzelnen Novellen). Laut einem Brief der Autorin vom 6.11.1951 an ihren nun neuen Kölner Verleger J. C. Witsch (HAStK-RBA, Best. 1514, A 5, [Bl. 1]) versuchte Baum „seit Jahren“ aus dem amerikanischen Exil eine Neuausgabe ihrer Novellen „aus meiner deutschen Zeit“ zu erwirken, die z. T. (wie die preisgekrönte Novelle Der Weg) im deutschsprachigen Original an US-amerikanischen Universitäten „zum Lehrstoff gehoeren“ und „in Frankreich und Sued Amerika immer wieder gedruckt [werden]“ (dies bestätigen Verträge und Abrechnungslisten für französische und spanische Übersetzungen der sechs Novellen Das Joch, Hunger, Das Wunder, Der letzte Tag, Jape im Warenhaus und Der Sittich von 1935, 1945, 1950 und 1953 in Baums Nachlass; vgl. AdK, Nr. 94, Nr. 100).

Als weiteres Verkaufsargument ihrer Novellen („das Anstaendigste[,] das ich geschrieben habe“, Brief Baum an Witsch, 6.11.1951, HAStK-RBA, Best. 1514, A 5, [Bl. 1]; mit diesen Worten wiederholte sie ihr Anliegen auch noch einmal am 6.3.1952, vgl. Witsch 1977, 42) führt sie zudem die kürzliche Verfilmung ihrer „Bergsteiger Geschichte“ Das Joch an (deutsche Premiere am 17.8.1951 unter dem Titel Verträumte Tage). In einem Brief vom 29.3.1952 heißt es weiter: „Unbedingt moechte ich einige der Novellen, die seinerzeit bei Ullstein in einem Band erschienen[,] der hiess ‚Die andern Tage‘“ (HAStK-RBA, Best. 1514, A 8). Und am 15.12.1952 (sowie am [1].1.1953 erneut) erläutert sie ihr Anliegen noch einmal ausführlicher:

Sie fragen mich wegen des „Novellenbaendchens“; das Wort Baendchen beunruhigt mich ein wenig, denn diese Novellen sind wahrscheinlich das Beste, und auf jeden Fall mir persoenlich das Wichtigste[,] das ich geschrieben habe. Seit Jahren flehe ich um die Herausgabe dieser Sammlung, die sich durch den Uebergang zuerst an Fischer, dann an Kiepenheuer, immer wieder verzoegerte. Bitte, lassen Sie mich doch wissen, ob Sie die Liste der Novellen[,] die ich in dem Baendchen haben will, besitzen, und ob die Originale oder fruehere Drucke der Novellen in Ihrer Hand sind. Mir persoenlich laege viel mehr daran, die Novellen zuerst herauszubringen; schon deshalb, weil sie noch deutsch geschrieben waren und von deutschen Menschen handeln, so wie ich sie vor 1930 kannte. Auch die allerbeste Uebersetzung kann ja doch nicht meinen eigenen Stil wiedergeben, und die Novellen sind gewissermaßen das, was mich berechtigt, mich zur „Literatur“ zu rechnen. (HAStK-RBA, Best. 1514, A 8, [Bl. 1])

Baums „Liste“, die sie in ihrem Brief vom [1].1.1953 noch einmal wiederholte, enthielt neben den Erzählungen Der Weg, Das Joch, Der Sittich, Jape im Warenhaus („ich weiss nicht[,] ob die gut oder schlecht ist“) und Hunger zudem die Texte Der Herr und der Lauffer von 1926 und Die Strandwache von 1929; ihre Novelle Der letzte Tag wollte Baum hingegen „nicht wiedersehen, sie ist etwas zu juvenil und suess“ (Brief Baum an Witsch, 29.3.1952, HAStK-RBA, Best. 1514, A 8, [Bl. 1]). Die Reihenfolge sollte „gewissermassen chronologisch aufeinander folgen“, „also den mittelalterlichen ‚Sittich‘ zuerst, dann das Wiener Rokoko von ‚Herrn und Lauffer‘, / die Zeit nach dem ersten Weltkrieg in ‚Strandwache‘, / ‚Hunger‘ aus der Zeit der Depression, / ‚Untergang‘ [d. i. Jape im Warenhaus] in den Dreissigerjahren, / ‚Das Joch‘ und ‚Der Weg‘ sind zeitlich nicht gebunden“ (Brief Baum an Witsch, [1].1.1953, HAStK-RBA, Best. 1514, A 13, [Bl. 1]).

An diese Reihenfolge, um „so langsam in die Neuzeit hinein[zu]wandeln“ (Brief Baum an Witsch, 24.2.1953, HAStK-RBA, Best. 1514, A 13), hielt sich der Verlag bei seiner Veröffentlichung der Erzähltexte unter dem Titel Die Strandwache. Novellen (1953) jedoch nicht wirklich und begegnete der „Zaertlichkeit“ der Autorin für ihre „fruehgeborenen Lieblingskinder“, „um die ich immer bettle“ (Brief Baum an Witsch, 29.3.1952, HAStK-RBA, Best. 1514, A 8; [1].1.1953, HAStK-RBA, Best. 1514, A 13; 2.12.1953, HAStK-RBA, Best. 1514, A 13), eher mit Skepsis: „Offenbar sind Ihnen diese Novellen besonders ans Herz gewachsen, obwohl ich nicht finde, daß es gerade die Novellen sind, die Ihre ‚literarische‘ Qualität markieren“ (Brief Witsch an Baum, 31.12.1952, HAStK-RBA, Best. 1514, A 8, [Bl. 1]). Gleichwohl wurden Baums Texte Hunger, Der Weg und Jape im Warenhaus, neben der 1941 als The Christmas Carp zunächst auf Englisch veröffentlichten Titelgeschichte, erneut in der postum bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Sammlung Der Weihnachtskarpfen. Erzählungen (1993/2021) publiziert.

Themen und Strukturen

Den Titel Die andern Tage entnahm Vicki Baum laut eigener Aussage einem Gedicht Maurice Maeterlincks (vgl. Brief Baum an J. C. Witsch, 29.3.1952, HAStK-RBA, Best. 1514, A 8, [Bl. 1]; Baum 2019, 393) und verwandte ihn leitmotivisch in der Erzählung Das Joch, die Baums Novellenband von 1931 einleitet. Es handelt sich um das zwölfte Gedicht, Vous avez allumé les lampes (1891 erstmals unter dem deutschsprachigen Titel Lied in der Literaturzeitschrift La Conque erschienen), aus Maeterlincks symbolistischem Lyrikzyklus Douze bzw. Quinze Chansons (1896 bzw. 1900), ins Deutsche übersetzt von K. L. Ammer und Friedrich von Oppeln-Bronikowski 1906 (weitere Informationen enthält der Kommentar zu Das Joch).

Zusammen mit ihrem Roman Ulle, der Zwerg (1924) hielt Baum Die andern Tage in ihrer postum erschienenen Autobiografie Es war alles ganz anders (1962) für „die beiden Bücher, die ich für meine besten halte“, nämlich für „Literatur“ (Baum 2019, 392f.). Dafür stehe auch ihre Wahl der Deutschen Verlags-Anstalt als Publikationsort. Hier erschienen neben Werken Thomas Manns auch Übersetzungen von Maeterlinck sowie 1923 Baums expressionistischer Text Die Welt ohne Sünde. Der Roman einer Minute.

Beide Novellenbände präsentieren die Themen-, Stil- und Genrevielfalt aus Baums Frühwerk und ihren Produktionen der 1920er und frühen 1930er Jahre, welche bis in ihr Spätwerk im US-amerikanischen Exil weiterwirkt: Von der jüdischen Ghettogeschichte des 19. Jahrhunderts über die Dekadenzliteratur der Jahrhundertwende und die Warenhausnovelle im Übergang vom Naturalismus zur Neuen Sachlichkeit bis zur magisch-realistischen und legendenhaft-historischen Erzählung thematisieren die Texte Künstlerfiguren, häufig aus dem der Autorin besonders vertrauten Bereich der Musik, religiöse und gesellschaftliche Außenseiter, Armuts- und Geschlechterschicksale ebenso wie Umwelt-, Tier- und (modische) Objektaspekte, was sie sozial- und kulturwissenschaftlich interessant macht für Literary Class, Gender und Animal Studies, Ecocriticism sowie Ding- und Konsumforschung.

Formalästhetisch arbeiten die Texte mit den Novellenmerkmalen der Kürze, des dramenähnlichen Aufbaus mit Exposition, Peripetie und (zumeist in eine Katastrophe mündendem) Schluss, Leitmotiven und Dingsymbolen. Sie zeichnen sich aber auch durch Mehrsprachigkeit, eine z. T. exzessiv und ohne „Einflußangst“ (Bloom 1995) eingesetzte Intertextualität bzw. -medialität, durch Ironie, Selbstzitat und autofiktionale Elemente aus und erlauben in der Regel eine Rezeption auf mehreren Ebenen.

Dabei werden häufig das Erzählen, Literatur, Kunst und Musik in ihrer Auswirkung auf die Lebenswirklichkeit der Figuren (selbst)kritisch reflektiert, indem die ästhetizistische Opposition von Kunst und Leben sowohl aufgenommen als auch durchkreuzt wird. Das breit gefächerte Spektrum reicht hier von den so hervorgerufenen, überhöhten Lebens- und Liebeserwartungen, die sich aber als bereits diskursiv besetzte, literarisierte und medialisierte Phänomene erweisen, dem Ungenügen und dem Zerbrechen an der Alltagsrealität mit ihren minutiös geschilderten Routinen bis zur psychotherapeutischen Wirkungsmacht der Narration.

Auseinandersetzungen mit dem Alltagsrealismus Gustave Flauberts und Knut Hamsuns spielen dabei ebenso eine Rolle wie mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers, mit der Wiener Moderne Arthur Schnitzlers (und deren Klischees) wie mit dem Ästhetizismus des frühen Thomas Mann. So entsteht schon hier eine Synthese aus tradierten mimetisch-realistischen, naturalistischen, neusachlichen und frühmodern neuromantischen Elementen im Sinne der von Gustav Frank und Stefan Scherer für literarische Verfahrensweisen zwischen 1925 und 1955 beschriebenen „Synthetischen Moderne“ (Frank/Scherer 2016). Das bildet in erzählperspektivischer Hinsicht auch die häufig eng zusammengeführte Kombination personal-introspektiver, auktorial-kommentierender und szenisch-dialogischer Erzählhaltungen ab, deren unauffällig gleitende Übergänge sich erst in einer genauen narratologischen Analyse erschließen lassen (vgl. Podewski 2022).

 

Rezeption

Renommierte Vertreter*innen der zeitgenössischen Literaturkritik rezensierten Vicki Baums Novellenband seit seinem ersten Erscheinen 1922 sehr positiv. Dabei standen zunächst vor allem die literarische Entwicklung der Autorin, Bedeutungsassoziationen zum Titel der Erzählsammlung, Bezüge zu Thomas Mann sowie die stilistische Nähe der Texte zur Musik im Vordergrund. An den etwas veränderten Buchdrucken ab 1931 interessierten dann besonders die gesellschaftskritischen Aspekte von Baums Kurzprosa, welche hier schon früh im Kontext des Literaturbetriebs diskutiert und gegen das (Vor-)Urteil bloßer Kolportage verteidigt wurde.

So verweist Hans Sturm Anfang 1923 in Das literarische Echo, der Literaturzeitschrift der Deutschen Verlags-Anstalt, auf die Entwicklung einer „werdende[n] Erzählerin“, deren Novellen in ihrer „Liebe zum Pathologischen“ motivisch dem „‚Chronisten der Dekadenz‘“, nämlich Thomas Mann, verwandt seien, „dem sie das Buch zueignet“. Der Bedeutung des Bandtitels Die andern Tage widmen sich Paul Wiegler, Leiter der Romanabteilung des Ullstein Verlags und späterer Freund der Autorin (vgl. Nottelmann 2007, 79f.), im Prager Tagblatt (28.1.1923), E. K. Fischer in Die schöne Literatur (15.6.1923) und Margrit Freud im Berliner Tageblatt (22.7.1923). Während Fischer (1923, 227) konstatiert, dass es sich „nur [um] die heimlichen Feiertagserlebnisse“ der Figuren handeln könne, fragt sich Wiegler, ob Baum, „die an Hermann [!] Bang und Thomas Mann gelernt“ habe, damit „die Tage der Erfüllung meint, oder […] nicht doch die Lendemains, die grauen Tage der Enttäuschung“. Demgegenüber geht Freud in ihrer Besprechung von „Frauenbücher[n]“ eher von einer dialektischen Beziehung aus: „Es sind die Tage des Wunderbaren, das nie kommt, oder plötzlich Gegenwartsnähe und die Freude der Götter vorgaukelt, um plötzlich zu entgleiten und uns hinabzustossen in die Stunden des Alltags.“

Helene Tuschak, Redakteurin des Neuen Wiener Tagblatts und inzwischen Ehefrau von Baums Jugendliebe Carl Lafite (vgl. Nottelmann 2007, 78), arbeitet im Neuen Wiener Abendblatt (20.3.1923) den titelgebenden Topos der „andern Tage“ zudem an den einzelnen Erzählungen heraus. Von ihnen zählt sie Raffael Gutmann, zeitgenössische Stereotype bedienend, „mit der versonnenen Wehleidigkeit der jüdischen Seele, mit ernster Psychologie und genauester Milieuschilderung dargestellt, unerhört echt und doch verklärt“, zur „besten der Novellen“, bezeichnet hingegen Das Wunder in seiner Märchenhaftigkeit als „[m]inder geglückt“. Und selbst noch in ihrer Rezension der Inszenierung von Baums Theaterfassung Menschen im Hotel 1930 im Deutschen Volkstheater in Wien erwähnt Tuschak (1930) die „meisterhafte[n] Novellen“ aus der Sammlung Die andern Tage, von denen Fischer (1923) Raffael Gutmann ebenfalls als „Kunstwerk“ hervorhebt, neben der „Seelenstudie“ Hunger aber gerade den ‚originellen Einfall‘ der „phantastische[n] Nixengeschichte“ lobt, die man(n) „einer Frau kaum zutrauen möchte“.

Im Anzeigenteil von Baums 1923 in der Deutschen Verlags-Anstalt publizierten Roman Die Welt ohne Sünde wird Baums Novellensammlung darüber hinaus in zwei Rezensionszitaten aus der Neuen Preußischen [Kreuz-]Zeitung (Berlin) und dem Hannoverschen Kurier als eines ihrer bislang „reiffsten Werke[]“ beworben und die „Musikalität“ der jeweils mit einer eigenen „Melodie“ versehenen Geschichten hervorgehoben, die sich schon ab der „erste[n] Seite, de[m] ersten Satz“ in charakteristischer Weise entwickele (Bücher von Vicki Baum 1923). Von Baums „singende[m] Theater- und Musiknaturell“ spricht dann auch Wiegler in seinem Eintrag über die Autorin im zweiten Band seiner Geschichte der deutschen Literatur von 1930, u. a. im Hinblick auf deren Erzählung Der letzte Tag (Wiegler 1930, 825).

In seiner Rezension von Baums Werken aus der achtbändigen Ullstein-Ausgabe 1931, welche auch die etwas anders zusammengestellte Erzählsammlung Die andern Tage enthält, erwähnt der freie Journalist Franz Trescher in den österreichischen Blättern für sozialistisches Bildungswesen unter dem zeitpolitisch aktuellen Oberthema ‚Kleinbürgertum und Illusion‘ 1932 auch Baums Novellenband, indem er diesem eine dezidiert gesellschaftskritische Ausrichtung attestiert:

Der Pessimismus ist heute Erbteil des bürgerlichen Dichters, geistige Zersetzungserscheinung der kapitalistischen Welt. Der Pessimismus Vicki Baums ist aber noch anderes. Sie ist die Dichterin des Kleinbürgertums, sie kennt die Welt der Kleinbürgerlichkeit, verbogene und verwinkelte Welt mit Menschen voll sonderbaren, ungesättigten Glücksbedürfnisses, verdumpfter Erotik, verhaßter Pflichterfüllung, im Privaten steckengebliebener Revolutionen, nicht zum Ausbruch gekommener Explosionen (‚Zwischenfall in Lohwinkel‘ [!], ‚Die anderen [!] Tage‘). Es ist eine Welt voll Abenteuerlichkeit, voll Illusionen. (Trescher 1932, 143f.)

Der Rezensent plädiert so nicht zuletzt dafür, Baums Werk nicht einseitig und vorschnell („mit einer Handbewegung“) als „Massenware, Unterhaltungsliteratur“, „Kitsch“ abzutun, sondern, um der Autorin „gerecht zu werden, ab[zu]sehen von den Kompromissen, die sie mit dem Literaturmarkt schließt“, da ihr Werk von diesen „nicht zersetzt wird“ (Trescher 1932, 143). Das annonciert bereits der Titel seiner Sammelrezension, welcher der Autorin „Talent und Betrieb“ bescheinigt (Trescher 1932, 143; Hervorh. J. B.).

Geldentwertung, soziale Deklassierung und Not sieht dann auch die Neue Zürcher Zeitung in ihrer Rezension von Baums 1953 erschienener Novellensammlung Die Strandwache als Schwerpunkte dieser „Fingerübungen“, bei denen sich das Talent der Romanautorin auch in „Knappheit und Konzentration“ der Novellenform bewähre (N. 1953). Besonders hervorgehoben werden hier, wie in anderen Rezensionen aus den 1950er Jahren auch, neben der in Die andern Tage noch nicht enthaltenen Titelgeschichte die Erzählungen Der Weg, Jape im Warenhaus und Hunger. Kritisiert wird in der Neuen Zürcher Zeitung hingegen die „Unzahl von Druckfehlern“ der Kiepenheuer & Witsch-Ausgabe (N. 1953), worüber Baum im Nachhinein eine ganze „Liste“ angelegt hatte (Brief Baum an J. C. Wietsch [!], 2.12.1953, HAStK-RBA, Best. 1514, A 13).

Andere Rezensionen betonen, dass sich trotz der „Mannigfaltigkeit“ der Epochen, Stile und Themen „doch der Gesamteindruck glücklicher Geschlossenheit bei diesem Band“ biete (W. P. 1953), als „Zeugnis“ von Baums „– auch formal – weitschichtige[r] Schriftstellergabe“ (Anonym 1953a). Denn neben „kleine[n] Tragödien des Alltags […] in ihrer knappen, scharf beobachtenden Sachlichkeit“ (Hamann 1954) fänden sich hier auch „gefühlsbetontere[]“ (C. S. 1954), „der Romantik nicht abgeneigte[]“ (Anonym 1953b), „wenn auch nicht sehr originelle[]“ (Hamann 1954) Beispiele aus verschiedenen Schaffensphasen der Autorin. Insgesamt erweise sie sich, wie die Frankfurter Neue Presse am 7.11.1953 schreibt,

wieder als eine glänzende Erzählerin, die ihre Gestalten und deren Schicksale dem Leser wie in […] technisch virtuos gemachten Filmstreifen darbietet. Die Genauigkeit der Schilderung, die seelische Vorgänge mit der Präzision einer Zeitlupe in einzelne Phasen auseinanderblättert, bringt die Personen der Handlung dem Leser auf eine fast unheimliche Art nahe. (us 1953)

Mehrfach wird auch darauf hingewiesen, dass es sich bei den „originalen (in Vicki Baums Muttersprache geschriebenen)“ Texten ja eigentlich um „alte Bekannte“, vor allem aus Baums Berliner Ullstein-Zeit, handele (Hamann 1954), verfasst von einer „großartige[n] Erzählerin“, die „uns [deutschen Lesern] so in ferne Länder und zu fremden Menschen ‚entglitten‘“ sei (h. s. 1955) – eine in ihrem unbeholfenen Euphemismus durchaus zeittypische Verharmlosung der Emigration einer jüdischen Autorin.

Wissenschaftliche Beschäftigung haben bislang vor allem die Erzählungen Raffael Gutmann, Der Weg und Jape im Warenhaus erfahren: Jape im Warenhaus im Kontext von Fashion Studies, Warenhaus- und Objektforschung (vgl. Bertschik 2005, 261, Anm. 330 [zum Typoskript Untergang]; Erdle 2012; Streitler-Kastberger 2022, 43f.; Prokić 2023, 317–324); Der Weg im Kontext von Genderaspekten (vgl. Petersen 2001, 22–24, 87, 139f., 150f.; Nothegger-Troppmair 2012, 58–67); Raffael Gutmann im Kontext von Ghettogeschichte, jüdischer Identität, Dekadenzliteratur und Erzählforschung (vgl. Brenner 1997; Petersen 1995 und 2001, 121–129; Podewski 2009; 2014, 33-84 und 2022). Dabei beziehen sich die bisherigen Untersuchungen zu Baums Ghettogeschichte allerdings nicht auf die (veränderte) Buchfassung des Textes, sondern auf die Zeitschriften- und Zeitungsfassungen von 1911 bzw. 1922.

Julia Bertschik

Siglen

  • AdK - Akademie der Künste, Berlin, Vicki-Baum-Archiv
  • HAStK-RBA - Historisches Archiv der Stadt Köln, Kiepenheuer & Witsch-Nachlass
  • UBV - Ullstein Buchverlage Vertragsarchiv, Berlin

 

Literatur

  • Anonym 1953a - Anonym: Das liest die Frau. In: Schwäbische Landeszeitung, 31.10.1953.
  • Anonym 1953b - Anonym: [Rez. Die Strandwache]. In: Bücherschiff, 11.12.1953.
  • Baum 2019 - Vicki Baum: Es war alles ganz anders. Erinnerungen [1962]. Köln 22019.
  • Bertschik 2005 - Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln u. a. 2005.
  • Bloom 1995 - Harold Bloom: Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung [1973]. Übers. v. Angelika Schweikhart. Basel und Frankfurt/Main 1995.
  • Brenner 1997 - David A. Brenner: Neglected „Women’s“ Texts and Contexts: Vicki Baum’s Jewish Ghetto Stories. In: Women in German Yearbook 13, 1997, 100–121.
  • Bücher von Vicki Baum 1923 - Bücher von Vicki Baum. Die andern Tage. Novellen. In: Vicki Baum: Die Welt ohne Sünde. Der Roman einer Minute. Stuttgart u. a. 1923, [375].
  • C. S. 1954 - C. S.: Vicki Baum: „Die Strandwache.“ Novellen [Rez.]. In: Das Bücherblatt, 2.4.1954.
  • Erdle 2012 - Birgit R. Erdle: Die Masse der Dinge. Auftrittsformen des Objekts zwischen Literatur und Wissenschaft in der Moderne (von Vicki Baum und Georg Simmel). In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 22, 1, 2012, 89–100.
  • Fischer 1923 - E. K. Fischer: Baum, Vicki, Die andern Tage [Rez.]. In: Die schöne Literatur 24, 12, 15.6.1923, 226f.
  • Frank/Scherer 2016 - Gustav Frank und Stefan Scherer: Textur der Synthetischen Moderne (1925–1955). (Döblin, Lampe, Fallada, Langgässer, Koeppen). In: Poetologien deutschsprachiger Literatur 1930–1960. Kontinuitäten jenseits des Politischen. Hg. v. Moritz Baßler u. a. Berlin und Boston 2016, 77–104.
  • Freud 1923 - Margrit Freud: Zwei Bücher von Frauen. In: Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, Morgen-Ausgabe, 22.7.1923, 4. Beiblatt.
  • h. s. 1955 - h. s.: Das neue Buch. In: Düsseldorfer Nachrichten, 19.5.1955.
  • Hamann 1954 - Edith Hamann: Zweimal Vicki Baum. In: Telegraf, 17.2.1954.
  • N. 1953 - N.: Vicki Baum: „Die Strandwache“. In: Neue Zürcher Zeitung, Morgenausgabe, 10.12.1953, [Bl. 7].
  • Nothegger-Troppmair 2012 - Sonja Nothegger-Troppmair: Die Neue Frau der 20er Jahre am Beispiel Vicki Baum. Literarische Fiktion oder konkreter Lebensentwurf? Saarbrücken 2012.
  • Nottelmann 2007 - Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie. Köln 2007.
  • Petersen 1995 - Vibeke Rützou Petersen: The Best of Both Worlds? Jewish Representations of Assimilation, Self, and Other in Weimar Popular Fiction. In: The German Quarterly 68, 2, 1995, 160–173.
  • Petersen 2001 - Vibeke Rützow Petersen: Women and Modernity in Weimar Germany. Reality and its Representation in Popular Fiction. New York und Oxford 2001.
  • Podewski 2009 - Madleen Podewski: Literatur in/und Zeitschriften. Zur Relevanz eines Mediums für die Textinterpretation am Beispiel von Vicki Baums Erzählung „Rafael Gutmann“ aus Ost und West (1911). In: Populäres Judentum. Medien, Debatten, Lesestoffe. Hg. v. Christine Haug u. a. Tübingen 2009, 121–132.
  • Podewski 2014 - Madleen Podewski: Komplexe Medienordnungen. Zur Rolle der Literatur in der deutsch-jüdischen Zeitschrift „Ost und West“ (1901–1923). Bielefeld 2014.
  • Podewski 2022 - Madleen Podewski: Vor dem Durchbruch. Vicki Baums frühe Erzähltexte. In: Text + Kritik 235, 2022: Vicki Baum. Hg. v. Julia Bertschik u. a., 3–10.
  • Prokić 2023 - Tanja Prokić: Die literarische Moderne und das Neue Sehen. Eine Medien-Wissen-Konstellation. Paderborn 2023.
  • Streitler-Kastberger 2022 - Nicole Streitler-Kastberger: Geschlechter, Waren, Räume. Vicki Baum, die Neue Frau und der Neue Mann in Hotel, Schönheitssalon und Warenhaus. In: Text + Kritik 235, 2022: Vicki Baum. Hg. v. Julia Bertschik u. a., 36–44.
  • Sturm 1923 - Hans Sturm: Die andern Tage [Rez.]. In: Das literarische Echo 25, 9/10, 1923, Sp. 548.
  • Trescher 1932 - Franz Trescher: Vicki Baum oder Talent und Betrieb. In: Bildungsarbeit. Blätter für sozialistisches Bildungswesen 19, 5, 1932, 143–145.
  • Tuschak 1923 - Helene Tuschak: Die andern Tage [Rez.]. In: Neues Wiener Abendblatt, 20.3.1923, 4.
  • Tuschak 1930 - Helene Tuschak: „Menschen im Hotel.“ Komödie von Vicki Baum. – Erstaufführung im Deutschen Volkstheater. In: Neues Wiener Tagblatt, 12.5.1930, 2.
  • us 1953 - us: Vicki Baum erzählt. In: Frankfurter Neue Presse, 7.11.1953.
  • W. P. 1953 - W. P.: Vicki Baum, Die Strandwache, Novellen [Rez.]. In: Hessische Nachrichten, 7.11.1953.
  • Wiegler 1923 - Paul Wiegler: Zehn Bücher des Monats. In: Prager Tagblatt, 28.1.1923, [20].
  • Wiegler 1930 - Paul Wiegler: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 2. Berlin 1930.
  • Witsch 1977 - Kristian Witsch (Hg.): Joseph Caspar Witsch. Briefe 1948–1967. Köln 1977.